Exkursion: Hannover

[Naheliegendes zu Beginn: Blick vom Hohen Ufer über die Leine auf die Nanas von Niki de Saint Phalle (auf Google Maps hier). Um eine Furt, die möglicherweise an dieser Stelle die Flussüberquerung erleichterte, und eine Pferdetränke könnte einst jene Siedlung ihren Anfang genommen haben, die zur Landeshauptstadt Hannover wurde. Selbt deren heutiger Name könnte sich vom Hohen Ufer ableiten. Es könnte aber auch ganz anders gewesen sein. Auch die Kunst an dieser Stelle ist symptomatisch für Hannover: 1974 führte die Aufstellung der drei bunten Objekte zu Protesten, Unterschriftenaktionen, zahlreichen Diskussionen und letztlich zum stillschweigenden Ende des Experiment Straßenkunst, jenem ersten deutschen Programm für Kunst im Stadtraum, mit dem Hannover drei Jahre lang mutig Zeichen gesetzt hatte. Heute sind die Nanas so etwas wie Maskottchen der Stadt, sind als Krawattennadeln, Briefbeschwerer und Schlüsselanhänger zu kaufen – und sie haben sich als kluge Wertanlage erwiesen.]

Die digitalen Exkursionen der Jesteburger Bürger*innen-Akademie für Kunst in öffentlichen Räumen bieten beispielhaft Einblicke in das historische und zeitgenössische Spektrum des Genres. Wie gingen und gehen große Städte mit dem Thema um, was hat sich bewährt, was kommt bei den Bürger*innen an, was bei Besucher*innen und Tourist*innen? Was wirkt angestaubt und langweilt? Was ist innovativ, spannend, herausfordernd?

Die Landeshauptstadt Hannover hat vor 50 Jahren mit den Experiment Straßenkunst als erstem deutschem Programm für Kunst im Stadtraum Fragen gestellt, Tatsachen geschaffen und Trends gesetzt. Was ist geblieben, was hat sich weiterentwickelt? Welche Rolle spielen die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2025 und der aktuelle Kulturentwicklungsplan?

Herzlich willkommen in Hannover!

[Video: Begrüßung und Einführung von Thomas Kaestle.]

Wie bereits im Video geschildert: Der Projektleiter der Jesteburger Bürger*innen-Akademie für Kunst in öffentlichen Räumen und Autor dieses Beitrags, Thomas Kaestle, lebt und arbeitet in Hannover – unter anderem betreut er seit zehn Jahren gemeinsam mit zwei Kolleginnen im Auftrag des Kulturbüros der Landeshauptstadt das diskursive Vermittlungsprogramm Kunst umgehen, das sich mit zahlreichen Aspekten von Kunst in öffentlichen Räumen befasst. Bevor er einige seiner Ressourcen und Erfahrungen zu einem digitalen Spaziergang bündelt, sollen – quasi als Prolog – alle drei Teammitglieder von Kunst umgehen kurz mit ganz persönlichen Vorlieben, Erfahrungen und Erinnerungen zu Wort kommen: als Einstimmung auf den gedanklichen Weg durch Hannover. (Da es sich um voneinander unabhängige, individuelle Perspektiven handelt, sind Dopplungen und Wiederholungen nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil: Gibt es vielleicht sogar Kunst, die alle nachhaltig beeindruckt?)

[Video: Lieblingskunst und Geheimtips von Christiane Oppermann.]
[Video: Lieblingskunst und Geheimtips von Anna Grunemann.]
[Geheimtip von Anna Grunemann: Got von Pit Kroke vor dem Bundesverwaltungsamt Hannover in der Hans-Böckler-Allee (auf Google Maps hier) – Foto: Anna Grunemann.]
[Video: Lieblingskunst und Geheimtips von Thomas Kaestle.]

Und los!


Diese Exkursion beginnt mitten in der Stadt: auf dem Ernst-August-Platz vor dem Hauptbahnhof Hannover. Und dort wiederum an einem zentralen Ort: am Denkmal für König Ernst August I. von Hannover, nach dem der Platz benannt ist (auf Google Maps hier). Dieser Ort eignet sich gut als Start-Ort, als Ausgangs- und Knotenpunkt, weil sich hier einige Eigenarten von Kunst in öffentlichen Räumen an einem einzigen Objekt erläutern lassen. Von hier aus lässt sich behutsam das Knäuel mit den roten Fäden entrollen, um hin und wieder Bezüge, kleine Geschichten und Exkurse aus ihnen zu stricken. Denn wären Sie analog vor Ort, würde diese Exkursion Sie zwar gedanklich quer durch Hannover schicken – körperlich zurücklegen würden Sie aber nur eine ganz kurze Strecke unter dem Bahnhof hindurch und über den Raschplatz, vielleicht 500 Meter und ein paar Minuten reine Gehzeit.

[Albert Wolff: Ernst-August-Denkmal von 1861, auf dem Ernst-August-Platz vor dem Hauptbahnhof Hannover.]

Das Ernst-August-Denkmal ist nicht nur für Touren zu Kunst in öffentlichen Räumen ein geeigneter zentraler Ort und Knotenpunkt, es hat sich über Jahre und Jahrzehnte in Hannover als DER Treffpunkt etabliert. Es ist längst eine etwas volkstümlich Floskel: Hannoveraner*innen treffen sich „unter’m Schwanz“, nämlich unter dem des bronzenen Pferdes. So hat sich am Denkmal irgendwann ein sozialer Ort etabliert, eine Landmarke. Nicht jede Kunst mit Ortsbezügen richtet sich konzeptionell oder formal nach ihrem Standort – es gibt auch Arbeiten, deren Ortsbezüge durch ihre Anwesenheit erst entstanden und gewachsen sind.


Exkurs: Schottland hinter dem Rathaus

Manche Ortsbezüge sind hingegen von Anfang an sorgsam konzipiert, müssen aber erst entdeckt und erschlossen werden. Hinter Hannovers Neuem Rathaus, auf der anderen Seite des Maschteichs (auf Google Maps hier) steht eine Plastik von Henry Moore, einer von mehren Abgüssen seines Glenkiln Cross (hier auch Schottisches Kreuz genannt). Der Name ist schnell erklärt: Der erste Abguss steht in Schottland, im Skulpturenpark von Glenkiln. Nachdem der hannoversche Sammler und Mäzen Bernhard Sprengel diesen hier auf der documenta II erworben hatte, um ihn der Landeshauptstadt zu schenken, war der Künstler im Jahr 1960 aktiv an der Ortswahl beteiligt – sie sollte mit dem Aufstellungsort in Glenkiln korrespondieren. Dieser Ortsbezug erstreckt sich also über etwa 1.000 Kilometer Luftlinie.


Zurück: Nicht bewegen!

Viele von denen, die sich heute in Hannover „unter’m Schwanz“ treffen, gehen ganz selbstverständlich davon aus, dass die Menschen hier das schon immer so gemacht haben – und dass sich nicht nur das Ernst-August-Denkmal schon immer genau in dieser Form an genau dieser Stelle befand, sondern eben jedes Denkmal, jede Skulptur, jede Installation. Und sie sind entrüstet, wenn jemand auf die Idee kommen sollte, irgendein Detail an „ihrem“ gewohnten Stadtraum zu verändern. Sie übersehen, vergessen oder ignorieren, dass eine Stadt sich ausgesprochen dynamisch entwickelt – in der Regel dynamischer als die Kunst darin.


Exkurs: Kunst bildet Postkarten ab

Ein gutes Beispiel für das Pochen auf ein behauptetes Das-war-aber-schon-immer-so bei Fragen nach einer Dynamisierung der Kunst in öffentlichen Räumen ist der Umgang mit dem Bogenschützen am Rande des Trammplatzes vor dem Neuen Rathaus (auf Google Maps hier).

Entworfen hat die Plastik der Berliner Künstler Ernst-Moritz Geyger. Der Zeitpunkt ist nicht eindeutig geklärt: 1895 oder 1902. Der Bogenschütze gilt als sein bekanntestes Werk, es wurde in sechs unterschiedlichen Größen abgegossen. Nach Hannover kam dieses Exemplar durch einen privaten Ankauf nach 1918. Weitere Abgüsse stehen unter anderem am Neustädter Elbufer in Dresden sowie im Park von Schloss Sanssouci in Potsdam. Im Jahr 1939 wurde der hannoversche Abguss auf der Mauer des Friedhofs Engesohde platziert – gegenüber der neu entstandenen Löwenbastion mit den Bronzelöwen von Arno Breker. Möglicherweise wurde die Plastik hierfür enteignet. Seit 1955 stand sie auf dem Waterlooplatz und seit 1967 befindet sie sich neben dem Trammplatz vor dem Neuen Rathaus – wo sie angeblich auf das Büro des Oberbürgermeisters zielt, was als Anekdote gerne in Reiseführern erzählt wird. Eine bewegte Geschichte quer durch die Stadt also.

Eine temporäre Kommission für Kunst im öffentlichen Raum der Landeshauptstadt empfahl in ihrem 2008 veröffentlichten Gutachten einen Standortwechsel, um die Geste der Figur nicht kriegerisch wirken zu lassen – diese Interpretation hatte bislang ausschließlich die nationalsozialistische Platzierung gegenüber der Löwenbastion nahegelegt, an anderen Standorten zielt der Bogenschütze als Allegorie in die Weite zum Beispiel von Parks. Bei der Neugestaltung des Trammplatzes 2014 ergab sich eine Gelegenheit für eine Neuplatzierung, der Bezirksrat Mitte entschied sich jedoch dagegen – unter anderem mit dem Argument, dann müsste man ja Postkarten und Reisführer ändern.

[Ernst-Moritz Geyger: Bogenschütze von 1895 oder 1902 (Originalplastik), seit 1967 am Trammplatz vor dem Neuen Rathaus (Abguss), Provenienz ungeklärt.]

Exkurs: Was genau bewahren wir eigentlich?

Die Forderung, alles solle am besten genau so bleiben, wie es immer war, setzt eine genau Kenntnis dessen voraus, was war. Wenn im Sinne einer ursprünglichen künstlerischen Herangehensweise restauriert wird, kann dies zum Beispiel auch neue Spielräume mit sich bringen. Als im Jahr 2015 bei Hans Uhlmanns Stahlplastik 1965 vor dem Parkhaus in der Schmiedestraße (auf Google Maps hier) nach einem missglückten Reinigungsversuch durch städtische Mitarbeiter die Patina neu aufgetragen werden musste, wurde der Denkmalschutz einbezogen, weil Uhlmann, der als einer der Begründer der Metallplastik in Deutschland gilt, 1966 auch die korrespondierende Fassade des denkmalgeschützten Parkhauses mit konzipiert hatte.

Den Vorschlag, einen Lack zu finden, der dem ursprünglichen möglichst genau entspricht, lehnte Hans-Joachim Uhlmann ab, der Sohn des 1975 verstorbenen Künstlers, der in Hannover als Stadtplaner tätig war. Sein Vater habe ohnehin immer nach jener Farbdose gegriffen, die eben gerade am nächsten stand – da sei es doch viel sinnvoller, einen ähnlichen Lack zu verwenden, der aber moderner und dauerhafter sei. So wurde es dann gemacht.

[Hans Uhlmann: Stahlplastik 1965, 1966 neben dem Parkhaus Schmiedestraße aufgestellt.]

Exkurs: Welcher Zustand ist der richtige?

Erich Haberlands Schwimmer am Rande des Maschsee-Stradbads (auf Google Maps hier) ist wohl im Zusammenhang der anderen Plastiken entlang des Maschseeufers, die heute als Ensemble Teil der Erinnerungskultur sind, noch während des Nationalsozialismus entstanden, wurde aber erst nach dem Krieg aufgestellt – mache Quellen nennen das Jahr 1948, in dem der offizielle Badebetrieb am Maschsee wieder aufgenommen wurde, andere das Jahr 1950. Nach einer wechselhaften Geschichte übernahm im Jahr 2007 die Aspria Hannover GmbH die Erbpacht für das Areal. Welche Verantwortung sich daraus für die Pflege der Bronzeplastik und ihres Umfelds ergibt, ist jedoch unklar und führt aktuell zu Gesprächen über Zuständigkeiten.

Der Blick des Schwimmers auf den See ist nämlich über die Jahre zugewachsen, der Boden um die Plastik herum ist zur Stoplerfalle geworden. Die Stadtverwaltung stellte bereits vor zwei Jahren Absperrgitter auf. Damit ist aber selbstverständlich der Pflege und dem diese regelnden Urheberrecht nicht Genüge getan. Nun soll möglicherweise festgelegt werden, wer welche Pflegearbeiten vornimmt. Dabei ist auch Kommunikation zwischen städtischen Behörden notwendig. Welcher Umgebungszustand wird der Plastik also gerecht? Wie viel Unterholz und hohes Gras sind denkbar, wo sollten die Steinplatten aufhören? Und welcher Blickbezug zum Wasser ist zwingend?

Vielleicht ist es ohnehin gut, über die Aufstellungsbedingungen der ideologisch belasteten Maschseekunst, die ja ein bestimmtes Menschenbild vermitteln sollte, immer wieder neu nachzudenken, um deren historische Bezüge nicht allzu selbstverständlich werden zu lassen.

[Erich Haberland: Der Schwimmer, 1948 am Maschsee-Strandbad aufgestellt, aber wohl bereits während des Nationalsozialismus konzipiert und entstanden.]

Zurück: Ernst August auf Achse

Wie steht es denn nun um die historische Standhaftigkeit des Ernst-August-Denkmals vor dem Hauptbahnhof? Befand sich das schon immer (oder eben zumindest seit seiner Aufstellung) genau in dieser Form an genau dieser Stelle? Auch hier zeigt sich: Heutige Betrachter*innen von Denkmalen und Kunstobjekten im Stadtraum neigen dazu, Geschichte schnell zu vergessen. Die ist in diesem Fall ohnhin ganz interessant, denn Ernst August I. war kein gütiger, beliebter König, wie es die Inschrift „Dem Landesvater / Sein treues Volk“ suggeriert.

Vielmehr beendete die Herrschaft von Ernst August I. nach 123 Jahren die Personalunion zwischen Großbtitannien und Hannover. Fünf Monarchen regierten während dieser Zeit beide Königreiche. Erst die Thronbesteigung Königin Viktorias 1837 machte dies unmöglich – in Hannover waren keine Frauen in dieser Position zugelassen. Also ging der Herrschaftsanspruch auf Viktorias Onkel über, den bereits 66jährigen Ernst August, der sich schnell mit einem antiliberalen Führungsstil unbeliebt machte, indem er unter anderem das relativ freiheitliche Staatsgrundgesetz, das seine Vorgänger 1833 erlassen hatten, bei seinem Amtsantritt wieder aufhob.

Sein Sohn Georg V. gab nach Ernst Augusts Tod das Denkmal in Auftrag. Dass es ausgerechnet vor dem Bahnhof steht, ist eine Ironie der Geschichte: Ernst August hatte die Eisenbahn gehasst, weil er der Meinung war, niemand solle schneller und angenehmer reisen können als der König in seiner Kutsche. Ursprünglich befand sich der Standort des Denkmals dort, wo zwei historische Stadtachsen aufeinandertrafen, angelegt durch Hofbaumeister Georg Ludwig Friedrich Laves. Der Sockel war höher gestuft sowie von einem Grünstreifen und einem Zaun umgeben – unter den Schwanz des Pferdes vermochte gar kein*e Untertan*in zu gelangen.

Der Bau der U-Bahn ab dem Jahr 1965 veränderte Hannovers Stadtstruktur – und brachte zunächst viele Großbaustellen mit sich, so auch eine massive Baugrube zwischen Kröpcke und Hauptbahnhof. Das Denkmal musste weichen und befand sich zwischen 1971 und 1975 auf dem heutigen Platz der Göttinger Sieben, vor dem Niedersächsischen Landtag. Nach seiner Rückkehr fehlte der gestufte Unterbau, der vielen Menschen als Sitzgelegenheit gedient hatte. Außerdem wurde das Denkmal leicht zum Bahnhof hin verschoben, um Platz für den Treppenabgang zur neuen Bahnhofsunterquerung Paserelle zu schaffen. Also alles immer schon genau so? Eher nicht.

[Der Ernst-August-Platz vor dem Hauptbahnhof mit dem Ernst-August-Denkmal um das Jahr 1900.]

Exkurs: Der Landesvater als Bösewicht

Dass Ernst August I. ein unbeliebter, autoritärer Herrscher war, der als eine seiner ersten Amtshandlungen das Staatsgrundgesetz von 1833 aussetzte, in dem erstmals demokratische Rechte für bestimmte Bürgerschichten festgeschrieben worden waren, wurde oben bereits erwähnt. Dass sein Denkmal zwischen 1971 und 1975 ausgerechnet vor den Niedersächsischen Landtag versetzt wurde, auch. Hierdurch verzögerten sich die bereits seit etwa 1961 verfolgten Planungen, vor dem Landtag ein „Niedersachsen-Wahrzeichen“ aufzustellen.

Es sollte um die Göttinger Sieben gehen, sieben Göttinger Professoren, die im Aussetzen des Staatsgrundgesetzes einen klaren Rechtsbruch sahen, da der König bei seinem Amtsantritt den Bestand der Landesverfassung garantiert hatte. Sie protestierten mit einer schriftlichen Erklärung: Der Jurist Wilhelm Eduard Albrecht, der Historiker und Staatsrechtler Friedrich Christoph Dahlmann, der Orientalist Heinrich Ewald, der Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus, die Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm und der Physiker Wilhelm Weber. Alle sieben Professoren wurden vom König daraufhin ihrer Ämter enthoben. Dahlmann, Jacob Grimm und Gervinus wurden zudem aus dem Land gewiesen. Das Handeln der Göttinger Sieben gilt als eines der ersten bedeutenden Beispiele für Zivilcourage.

1992 wurde der Platz vor dem Landtag umbenannt, 1993 ein internationaler Kunstwettbewerb ausgeschrieben, den Floriano Bodini mit einem eher konservativen Figurenensemble gewann, dessen größter Reiz vielleicht darin liegt, dass die Göttinger Sieben hier die Gesichter von Freunden Bodinis tragen – um zu betonen, dass Zivilcourage alle etwas angeht. Die sieben Professoren hat Bodini durch einen Studenten ergänzt – und durch einen Reiter: König Ernst August I. sitzt auch hier auf einem Pferd, wie vor dem Hauptbahnhof. Nur dass er 127 Jahre später in der Kunst die Rolle des Bösewichts zugesprochen bekommt. Auf eine zeitgenössische künstlerische Umsetzung des wichtigen Themas Zivilcourage wartet der Platz der Göttinger Sieben hingegen bis heute.

[Floriano Bodini: Göttinger Sieben, 1998 auf dem Platz der Göttinger Sieben vor dem Niedersächsischen Landtag installiert.]

Exkurs: Der abwesende Landesvater

Eine zeitgenössische künstlerische Interpretation des Themas Zivilcourage befindet sich seit 2015 vor dem Bahnhof jener Stadt, von der einst die Proteste gegen Ernst August I. augegangen waren. Die Künstlerin Christiane Möbus hat den Sockel des hannoverschen Denkmals exakt kopiert, jedoch bis auf einige bronzene Hufabdrucke auf Ross und Reiter verzichtet. Zudem steht der Sockel bewusst in keiner symmetrischen Achse zum Bahnhofsgebäude. Statt der originalen, beschönigenden Inschrift „Dem Landesvater / Sein treues Volk“ trägt er hier die Worte „Dem Landesvater / Seine Göttinger Sieben“. Statt des Namens des Königs stehen auf der anderen Seite des Sockels die Namen der Göttinger Sieben, ergänzt durch den der Künstlerin – aus einer ähnlichen Haltung, die Floriano Bodini seine Freunde porträtieren ließ: Zivilcourage ist auch heute noch eine Herausforderung für alle Bürger*innen.

Bemerkenswert ist, dass der Rat der Stadt Göttingen die Schenkung der Arbeit durch die Stiftung Niedersachsen nur mit einem knappen Mehrheit angenommen hat, nachdem eine aufgeregte öffentliche Debatte vorangegangen war. Schließlich wurde im Jahr 2016 zusätzlich eine Erläuterungstafel angebracht, die vermittelnden und kontextualisierenden Charakter hat – immerhin erstreckt sich auch dieser Ortsbezug unter anderem über eine längere Strecke, in diesem Fall etwa 100 Kilometer (auch wenn sich die beiden Denkmale im Rahmen einer Zugfahrt von etwa 45 Minuten diekt vergleichen lassen).

[Christiane Möbus: Dem Landesvater seine Göttinger Sieben, Berliner Straße/Bahnhofsvorplatz, Göttingen, 2015 (Foto: Jan Stubenitzky (Dehio) – CC BY-SA 4.0)]

Exkurs: Umgekehrtes Reiterdenkmal

Neben dem Andreaeplatz mit seinen bewusst unbequemen Sitzgelegenheiten, die wohl ein Liegen verunmöglichen sollen, dabei aber zu Lasten jeder Aufenthaltsqualität gehen, steht fast beiläufig durchaus wichtige Kunst im öffentlichen Raum: Der Mann mit Hirsch des bedeutenden zeitgenössischen Bildhauers Stephan Balkenhol.

Die Plastik wurde 2002 als Ergebnis eines beschränkten Wettbewerbs durch eine Jury ausgewählt, initiiert und finanziert durch die KarstadtQuelle AG anlässlich ihres Jubiläums und Neubaus am Standort. Die surreale Kombination von meist unbeteiligt wirkenden Menschen mit Tieren soll in den Arbeiten Balkenhols bewusst keine Geschichten erzählen – so bleibt die Arbeit geheimnisvoll. Im Gegensatz zu vielen anderen Darstellungen von Mensch und Tier wirkt diese unhierarchisch, es findet keine Kontrolle statt. Die Situation wirkt entspannt: eher ein Schnappschuss als eine Pose. So kann die Plastik auch als alternatives Reiterstandbild gelesen werden, in direktem Gegensatz zur Repräsentativität historischer Vorbilder wie zum Beispiel dem Ernst-August-Denkmal von Albert Wolff, das 1861 vor dem Hauptbahnhof aufgestellt wurde.

Es existieren noch weitere Abgüsse des Objekts Mann mit Hirsch. Ein unbemalter in Ratingen ist hier als Vergleich besonders interessant: Er steht nämlich in der Natur, mitten auf einer Wiese im Angertal, am Kunstweg der Stadt Ratingen. Dort geht es in lokalen Beschreibungen der Kunst plötzlich um Bezüge zur Jagd, im Verhältnis von Mensch und Natur dominiert an diesem Ort klar die Natur – anders als mitten in Hannover.

[Mann mit Hirsch von Stephan Balkenhol, 2001, Ecke Schillerstraße/Andreastraße.]

Exkurs: Die Kunst des Weglassens

Das Sachsenross vor dem Welfenschloss birgt ebenfalls eine Geschichte hinter dem Offensichtlichen – und auch sie hat mit fehlenden Reitern zu tun. Das Schloss wurde nach seiner Fertigstellung 1866 nie als solches genutzt, weil im selben Jahr das Königreich Hannover von Preußen annektiert wurde und die Herrschaft der Welfen endete. Erst 1879 wurde das Gebäude erstmals genutzt – als Königlich Technische Hochschule. Es beherbergt bis heute die Leibniz Universität Hannover. Ebenfalls erst im Jahr 1879 fand die Bronzeplastik des Sachsenrosses vor das Welfenschloss. Sie war noch von den Welfen bei Albert Wolff in Auftrag gegeben worden – jenem Albert Wolff, der auch das Ernst-August-Denkmal ausführte. Er stellte sie 1865 fertig.

Warum das Pferd hier im Aufbäumen gezeigt wird, erklärt sich bei einem Blick auf eine andere Plastik des Künstlers. Die Welfen hatten nämlich offenbar einen Abguss einer Pferdedarstellung bestellt, die seit 1861 vor dem Alten Museum in Berlin stand – also in der Hauptstadt Preußens. Die Originalplastik trägt den Titel Löwenkämpfer zu Pferde, wurde 1854 bis 1861 von Albert Wolff nach einem Entwurf von Christian Daniel Rauch im Stil des Realismus geschaffen und gehört zu den Meisterwerken der Berliner Bildhauerschule. Hier sitzt ein Reiter mit Lanze auf dem Rücken des Pferdes, mit der er einen Löwen zu töten versucht, der wiederum dabei ist, seine Pranke in den Bauch des Pferdes zu schlagen. Vor dem Welfenschloss in Hannover steht ein Abguss des selben Pferdes – nur eben ohne Reiter, Sattel, Zaumzeug oder Löwen. Sein Schmerz und seine Panik sind jedoch geblieben.


Zurück: Keine Kunst im öffentlichen Raum – und kein öffentlicher Raum

Bei all den Refenzen, Erläuterungen, Geschichten und Exkursen, die das Ernst-August-Denkmal als Ausgangspunkt eines Beitrags zu Kunst im öffentlichen Raum ermöglicht: Es ist selbst keine Kunst im öffentlichen Raum in der heute gängigen, zeitgenössischen Definition des Begriffs. Der umfasst meist eher Skulpturen, Plastiken, Objekte, Installationen und Projekte, die in demokratischen Gesellschaften entstanden sind – im Gegensatz zu von feudalen oder autokratischen Herrschern und den Kirchen beauftragten Arbeiten. Das Ernst-August-Denkmal ist genau, was sein Name sagt: ein Denkmal. Denkmale können heute auch Kunst im öffentlichen Raum sein, je nach Auftrag, Konzeption, Ausführung und beteiligten Personen/Rollen. Sie müssen es aber nicht.

Viel interessanter ist: Nicht nur handelt es sich bei diesem Denkmal nicht um das, was heute in der Regel als Kunst im öffentlichen Raum bezeichnet wird – es befindet sich noch nicht einmal in einem öffentlichen Raum. Der Ernst-August-Platz gehört nämlich zum Gelände des Hauptbahnhofs – und unterliegt der Hausordnung, die an zahlreichen Lichtmasten unübersehbar aushängt. Die Deutsche Bahn übt hier ihr Hausrecht aus, legt fest, was erlaubt und verboten ist, kann Platzverweise aussprechen und kommerzielle Aktivitäten zulassen oder beauftragen. Zwar kann zunächst jede*r den Raum betreten, ohne durch sichtbare Zugangsschranken oder Barrieren daran gehindert zu werden. Dies ist jedoch mit einem Akzeptieren der Hausordnung verbunden.

In der Regel ist in solchen Fällen die Rede von einem halböffentlichen Raum. Echte öffentliche Räume werden in Städten – vor allem in Innenstädten – immer seltener. Nicht zuletzt deshalb ist eine Forderung jener, die aktuell versuchen, die Innenstadt Hannovers neu zu denken und zu gestalten, Aufenthaltsqualität durch mehr konsumfreie Räume zu erreichen.

[Hausordnung der Deutschen Bahn auf dem Ernst-August-Platz in Hannover.]

Exkurs: Diskurshauptstadt I

Hannover soll sich verändern, vor allem seine Innenstadt. Hierzu hat die Stadtverwaltung einen groß angelegten Innenstadtdialog begonnen, in dem auch so genannte Kulturareale eine Rolle spielen. Außerdem hat sich die Landeshauptstadt Hannover vor ziemlich genau zwei Jahren um den Titel als Europäische Kulturhauptstadt 2025 beworben und war erst in der finalen Runde der Stadt Chemnitz unterlegen. Alleine der Bewerbungsprozess hat jedoch viel verändert und fokussiert. Außerdem ist von der Bewerbung ein Kulturentwicklungsplan (Kunst im öffentlichen Raum ab Seite 87) geblieben – sowie Ansprüche und Projekte, die sich auch ohne Titel realisieren lassen. Es dürfte sich lohnen, auch in einigen Jahren noch den einen oder anderen Blick ins Bewerbungsbuch zu werfen. Was das alles mit Kunst in öffentlichen Räumen zu tun hat, verrät im Video unten Melanie Botzki, strategische Kulturmanagerin im Kulturdezernat der Stadt Hannover.

[Video: Gespräch mit Melanie Botzki, strategische Kulturmanagerin im Kulturdezernat der Landeshauptstadt Hannover.]
[Entwurf für die Prinzenstraße (auf Google Maps hier), im Rahmen des Innenstadtdialogs der Landeshauptstadt Hannover veröffentlicht. Quelle im Kontext dieser Website.]

Exkurs: Diskurshauptstadt II

Experiment Straßenkunst hieß das dreijährige hannoversche Straßenkunstprogramm, das am 1. September 1970 begann. Auf allen entsprechenden Pressemitteilungen der Stadtverwaltung stand ganz oben dieses Wort: „Experiment“. Das war nicht etwa ein Marketingtrick, auch wenn das wenig schmeichelhafte Ergebnis einer Imagestudie im Jahr 1969 bescheinigte, Hannover wirke „ordentlich aber nicht lebendig, provinziell, steif und grau“. Also brachte Oberstadtdirektor Martin Neuffer das Experiment Straßenkunst auf den Weg, das seiner Landeshauptstadt zu einer besseren Startposition im Städtewettbewerb verhelfen sollte: das erste große Programm für Kunst im öffentlichen Raum einer deutschen Stadt. Aber trotz all der geplanten Werbeeffekte: Das mit dem „Experiment“ meinte Neuffer sehr ernst.

„Wir rechnen damit, dass wir in der Bevölkerung nicht sofort auf überwiegende Zustimmung stoßen werden“, schrieb er, wohl wissend, dass eine Umfrage ergeben hatte, dass 40 Prozent der Bürger für das Programm waren und 47 Prozent dagegen. Das Ziel hingegen war klar: „Unser Experiment liegt nicht zuletzt darin, dass wir hoffen, dass nach etwa zwei bis drei Jahren ein massiver Meinungsumschwung einsetzen wird.“ Die mögliche Konsequenz: „Sollte sich allerdings herausstellen, dass das nicht der Fall ist, dass moderne Kunst wirklich nur eine Kunst der Minderheiten ist, dann freilich würden wir das Experiment einstellen …“ Diese Wette konnte nicht gut gehen. Zu groß war die Euphorie des Aufbruchs, zu naiv die Annahme, durch die bloße alltägliche Konfrontation mit genug Kunst ließe sich innerhalb kürzester Zeit ein so grundlegender Bewusstseinswandel herbeiführen. Neuffer selbst prägte die viel zu dick aufgetragene Analogie: „Das Ergebnis wäre eine farbige Stadt, die mit Kunstwerken angefüllt ist wie mit Bäumen.“ Dennoch passierte viel – und vieles davon zum ersten Mal in Deutschland.

Unter der Leitung des Kunstvereinsdirektors Manfred de la Motte und seines Verwaltungsleiters Michael „Mike“ Gehrke, der ab 1972 hauptamtlich als „Imagepfleger“ der Stadt agierte, wählte eine Kunstkommission nicht nur Objekte zeitgenössischer Künstler aus, sondern beauftragte vor allem auch Aktionskunst, Happenings und Performances. Der Kunstbegriff begann zu fließen in jener Zeit – Hannover stellte für drei Jahre insgesamt drei Millionen Mark in Aussicht (von denen am Ende trotz Finanzkrise immerhin etwa zwei Drittel geflossen waren) und warf sich mutig in die Fluten. Die niederländische Eventstructure Research Group nahm das fast wörtlich und machte den Maschsee mittels Plastikwurst und Überdruck begehbar. Dass so etwas schon damals viel politischen Willen brauchte, zeigen die 34 überlieferten amtlichen Stempel. Dass es aber möglich wurde, erfüllte Neuffer zu Recht mit Stolz – heute noch nachzulesen in einem Auftaktkatalog mit Lobeshymnen der bundesweiten Presse und dem selbstbewussten Einleitungssatz: „Straßenkunst – die Möglichkeit einer weitreichenden, großartigen Veränderung unserer Städte durch Kunst kündigt sich an.“

Tatsächlich setzte das „Experiment Straßenkunst“ überregional Maßstäbe, warf Fragen auf, stellte Zusammenhänge her und löste kontroverse Diskussionen aus. Damit nahm es auch vorweg, was der Kulturpolitiker Hilmar Hoffmann zum Ende des Jahrzehnts mit seinem Manifest „Kultur für alle“ zusammenfasste: die imagetauglichen Kulturzauberformeln „Demokratie“ und „Partizipation“. Kritiker des Programms merkten allerdings frühzeitig an, vieles sei zu affirmativ geraten, kritische Kunst fehle und es gehe eher um oberflächliche Verschönerung ohne klares Konzept. Doch die Diskurse waren durch Hannovers „Experiment“ bundesweit in Gang gekommen und die Sehnsüchte nach einem neuen Umgang mit Kunst im Stadtraum geweckt. Bremen passte 1974 seine Kunst-am-Bau-Verordnung an und führte als erste deutsche Stadt den Begriff der „Kunst im öffentlichen Raum“ ein, Berlin zog 1979 nach, Hamburg 1981. Natürlich schlug sich der Begriff auch in Hannover irgendwann mit neuer Kunst nieder – wenn die auch oft zurückhaltender und konservativer war.

Das diskursive Vermittlungsprogramm Kunst umgehen der Landeshauptstadt Hannover hat zum Jubiläum des Experiment Straßenkunst einen digitalen Festakt und eine digitale Überblicksführung veröffentlicht.


Exkurs: Kunst und Stadtmarketing

Als weitere Maßnahme gegen das schlechte Image Hannovers brachte Oberstadtdirektor Martin Neuffer 1970 den Roten Faden auf den Weg, einen Rundgang zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten in der Innenstadt, mit roter Farbe auf das Pflaster markiert. Die Kampagne war von der Düsseldorfer Agentur Gerstner, Gredinger & Kutter GGK für die Stadt Hannover entwickelt worden. Zur Eröffnung des Roten Fadens gab die Stadt die Broschüre Der Rote Faden von Hannover heraus, die von Harry Rowohlt zusammen mit seinem langjährigen Weggefährten, dem Hannoveraner Ingenieur Herrmann Hettche, im Auftrag der Agentur GGK verfasst worden war. Das Konzept war 1970 tatsächlich höchst innovativ: Ein ähnliches Konzept bestand nur seit 1958 als Freedom Trail in Boston. Später wurde der Rote Faden oft kopiert – inzwischen wirkt das Konzept fast selbstverständlich.

Zum Roten Faden hat die Hannover Marketing und Tourismus GmbH ein gleichnamiges Heft herausgegeben, in dem der Verlauf mit den einzelnen Stationen erklärt wird. Alle Informationen zur aktuellen Version des Roten Fadens, inklusive eines 360-Grad-Rundgangs und Kartenmaterials, finden Sie auf der Website Visit Hannover der Hannover Marketing und Tourismus GmbH.

Das diskursive Vermittlungsprogramm Kunst umgehen der Landeshauptstadt Hannover hat zum Jubiläum des Roten Fadens drei hannoversche Autor*innen gebeten, neue Orte zu finden und zu betexten – darunter auch Jan Fischer, den ersten Gast der Jesteburger Akademie im Oktober.


Exkurs: Veröffentlichung und Privatisierung

Der Grat zwischen Kunst und Kultur in öffentlichen Räumen und ihrer Instrumentalisierung für eigene, in der Regel nur bedingt gemeinwohlorientierte, Interessen ist schmal. Die wohl öffentlichste und meistdiskutierte Intervention in den Stadtraum Hannovers im Jahr 2021 hätte offizieller, genehmigter und institutioneller nicht sein können: Das internationale Festival Theaterformen, das abwechselnd in den Städten Hannover und Braunschweig stattfindet, ließ im Juli für etwa drei Wochen die Raschplatzhochstraße sperren, eine gut 50 Jahre alte Überführung, als Teil des Cityrings Konsequenz aus der Nachkriegskonzeption Hannovers als „autogerechter Stadt“ (die Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht als nationalsozialistische Idee aus Albert Speers Wiederaufbaustab übernommen hatte, dem er angehörte).

Auf der Hochstraße wurde während des Festivals für knapp zwei Wochen ein Stadtlabor mit dem Titel We Are In This Together But We Are Not The Same präsentiert – mit knapp 250.000 Euro gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Die Idee eines Festivalzentrums auf der Raschplatzhochstraße entstand im Rahmen der Bewerbung Hannovers zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025. Das Festival Theaterformen griff sie auf, verzichtete aber auf einige grundlegende Faktoren des Originalkonzeptes. Wo es während des Kulturhauptstadtjahres nicht nur um das Thema Klimagerechtigkeit und Mobilitätswandel, sondern auch um eine radikale Öffnung und ein demokratisches Einbeziehen sozial marginalisierter Gruppen wie der Wohnungslosen auf dem unmittelbar benachbarten Raschplatz gegangen wäre, errichtete das Festival zusätzliche Zugangsschranken. Es privatisierte einen Teil des dem Autoverkehr abgerungenen öffentlichen Raums – in der öffentlichen Wahrnehmung ging es also nicht um ein Besetzen, sondern um ein (temporäres) Besitzen.

Auch wenn der Verkauf von Online-Tickets für das Stadtlabor über einen großen, kommerziellen Anbieter angeblich pandemiebedingten Hygienebestimmungen geschuldet war, auch wenn es dabei nur um wenige Euro ging: Die Intervention durch das Festival Theaterformen machte so mit öffentlichen Mitteln aus einem öffentlichen Raum den exklusivsten Club der Stadt, zugänglich nur für Angehörige bestimmter Szenen und Eliten, privilegiert durch Bildung, die Kenntnis bestimmter sozialer Codes, die Fähigkeit, Hochkultur zu kontextulaisieren, Zugang zu Hardware und Medienerzeugnissen und vieles mehr. Allen anderen blieb nur die Möglichkeit, verständnislos zu „denen da oben“ aufzublicken – und sich über ihre Ausgrenzung zu ärgern. Die eigentliche Absicht der Intervention, alternative Formen der Stadtnutzung nach einer Mobilitätswende aufzuzeigen, verpuffte für eine entscheidende Mehrheit der Stadtbevölkerung.


Zurück und Bewegung: Die obsolete Abkürzung

Die bisherigen Exkurse funktionierten als gedankliche Ausflüge in die Assoziationsräume der Stadt sehr gut vom Knoten- und Ausgangspunkt des Ernst-August-Denkmals aus. Würden Sie sich dort körperlich aufhalten, wäre jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich vorsichtig in bewegung zu setzen: Die Treppenstufen vor dem Denkmal nach unten, hinab in die Minusebene der ehemaligen Paserelle, die zum Zeitpunkt ihrer Konzeption noch eine findige Abkürzung unter dem Bahnhof hindurch war, ihre eigentliche Bestimmung aber schnell verloren hatte. Hannes Adrian, 1975 bis 1993 Stadtbaurat der Landeshauptstadt Hannover, war bereits ab 1963 Leiter einer Arbeitsgruppe Sonderplanung und damit städtebaulicher Betreuer des U-Bahn-Baus. Er hatte 1966 die Idee, auf dem Deckel der U-Bahn unter dem Hauptbahnhof hindurch eine Passage für Fußgänger*innen einzurichten, die erlaubte, den Bahnhof ohne ein Zugticket oder eine Bahnsteigkarte zu durchqueren, die damals noch Bedingung für das Betreten des Gebäudes waren. So sollte die Innenstadt an den Bereich hinter den Bahnhof und die ebenfalls in Planung befindliche Fußgängerzone in der Lister Meile angeschlossen werden.

Kaum war der Bau der Paserelle im Anschluss an den U-Bahn-Bau, der in diesem Bereich 1975 fertiggestellt wurde, beendet, schaffte die Deutsche Bundesbahn die Bahnsteigkartenpflicht ab: Ab sofort konnte der Hauptbahnhof auch ebenerdig durchquert werden. Was blieb, war die Paserelle als Flanier- und Einkaufspassage, ursprünglich mit mehr verzweigten Zugängen als heute, deutlich mehr Ladenfläche – und bald auch sozialen Verwerfungen und Kriminalität. Allerdings auch mit mehr Kunst, von der heute nur das Objekt Nessi von Stefan Schwerdtfeger geblieben ist. Inwieweit die in den 1970er Jahren konzipierte Kunst am Bau eher den Charakter von Ornament und Dekoration hatte, bleibt in der Rückschau abzuwägen.

Auch die Nessi ist vor allem affirmativ, fügt sich ein, macht Spaß, lädt Kinder zum Beklettern ein oder wird beim schnellen Durchqueren gar nicht wahrgenommen. Dabei ist interessant, dass ihr Schöpfer wiederum ein Architekt war, Stefan Schwerdtfeger – zwar mit künstlerischem Studienschwerpunkt, aber doch zunächst Entwurfsarchitekt im Hochbauamt, später Dozent für Innenarchitektur an der Werkkunstschule Hannover und schließlich Professor für Modellieren und Experimentelles Gestalten an der Technischen Universität Hannover im Fachbereich Architektur. Schwerdtfeger arbeitete zwischen Architektur und Kunst.


Exkurs: Verspätetes Bewusstsein

Heute hat die ehemalige Paserelle unter dem Hauptbahnhof hindurch einen anderen Namen, der auf eine französiche Künstlerin verweist, die maßgeblich zum Diskurs der 1970er Jahre, aber auch zum Ende des Experiment Straßenkunst beigetragen hat: Niki de Saint Phalle hat in der öffentlichen Wahrnehmung der Hannoveraner*innen eine erstaunliche Karriere hinter sich. Wurde sie 1974 vor und bei der Aufstellung ihrer Nanas am Leibnizufer (auf Google Maps hier) noch von vielen angefeindet, kann man Nachbildungen ihrer Objekte inzwischen als Schlüsselanhänger, Briefbeschwerer und Krawattennadeln erwerben, sie ist seit dem Jahr 2000 Ehrenbürgerin der Landeshauptstadt – und seit 2002 heißt die Fußgänger*innen-Unterführung zwischen Kröpcke und Raschplatz nicht mehr Paserelle, sondern Niki de Saint Phalle Promenade.

Die Proteste gegen die Nanas trugen zum Ende des Experiments Straßenkunst in Hannover bei. Oberstadtdirektor Martin Neuffer hatte 1970 angekündigt, man wolle ergebnisoffen prüfen, ob ein vermehrtes Platzieren von Kunst im Stadtraum („wie Bäume“) einen Bewusstseins- und Bildungsprozess auslösen könne und würde. 1974 mussten Beobachter*innen zunächst feststellen: Das war wohl nicht geschehen. Sie übersahen, dass de Saint Phalles Provokation eine öffentliche Auseinandersetzung über Kunst ausgelöst hatte, deren Umfang in Hannover seither nie wieder erreicht wurde. Im Nachhinein ist das kaum zu unterschätzen.

Die Bewusstseins- und Bildungsprozesse haben schließlich nur länger gedauert, zumindest bis zu einer völligen Akzeptanz der Nanas. Haben diese dabei ihre eigentliche Bestimmung erfüllt und damit verloren? Vermögen sie heute noch etwas in Betrachter*innen auszulösen – jenseits von historischer Wertschätzung? Wie müsste oder könnte Kunst im Stadtraum aussehen, die heute Auseinandersetzungen und Bewusstseinsprozesse in Gang setzt, die mit Avantgarde, Unerhörtem und vermeintlich Obszönem provoziert und erst auf langen Umwegen integriert statt den Weg des geringeren Widerstandes zu gehen?

[Die Nanas von Niki de Saint Phalle, deren Aufstellung im Jahr 1974 das Experiment Straßenkunst beendete.]

Zurück und Bewegung: Ausdauernde Dynamik

Wenn Sie dem Verlauf der Niki de Saint Phalle Promenade folgen, führen kurz nach Stefan Schwerdtfegers Nessi weitere Treppen nach unten. Die U-Bahn-Station unter dem Hauptbahnhof Hannover wurde 1975 fertiggestellt – da war das Experiment Straßenkunst bereits seit einem guten Jahr nach der Aufstellung der Nanas von Niki de Saint Phalle beendet worden. Die Planungen jedoch fielen mit dem ambitionierten Programm für Kunst im Stadtraum zusammen. Es war also schnell klar, dass die Gestaltung der zentralen Station durch einen internationalen Künstler erfolgen sollte. Einige wurden angefragt – angeblich sogar Roy Lichtenstein. Schließlich erfolgte ein Auftrag an den französischen Künstler Jean Dewasne, der zu den Neuen Realisten zählt, Erfahrung mit großen Flächen hatte und zum Beispiel im Jahr 1968 an der Kunstbiennale in Venedig teilgenommen hatte. Er lieferte Entwürfe, nach denen die beiden Außenwände der Station gestaltet wurden. Selbst war er an der Umsetzung wohl nicht beteiligt.

Die mit Autolack bearbeiteten Holztafeln erweisen sich als ausgesprochen dauerhaft: Sie wurden in fast 50 Jahren nie restauriert und haben sich dennoch bis heute ihre Leuchtkraft erhalten. Noch immer prägen sie mit abstrakten Assoziationen an Geschwindigkeit und Bewegung diesen sehr prominenten Durchgangsraum, an dem Stillstand die Ausnahme ist. Ob sie dabei von den Passagier*innen der Stadtbahnen als Kunst oder als Design wahrgenommen werden? (Oder eben gar nicht…?) Eine solche Kategorisierung ist immer auch abhängig von den ästhetischen Konventionen und Sehgewohnheiten ihrer Zeit. In 50 Jahren kann hier so manches in Bewegung geraten.


Exkurs: Rohzustand

Kein Geheimnis, aber doch deutlich weniger bekannt als die Wandgestaltung in der Station Hauptbahnhof, ist der Umstand, dass sie eigentlich noch weitläufiger ist als zunächst sichtbar. Ein Teil der Station, der einst für die sogenannte D-Strecke geplant worden war, befindet sich bis heute im Zwischenstadium der Bauvorbereitung unter der genutzten Station. Durch die neue Streckenführung der Linie 10 und den Bau der neuen Endhaltestelle neben dem Raschplatz wird diese Station wohl niemals genutzt werden. Sie ist in Hannover auch als „Geisterstation“ bekannt. Sie wurde in der Vergangenheit bereits für Ausstellungen genutzt. Im Rahmen der Bewerbung Hannovers als Kulturhauptstadt Europas 2025 entstand für diesen Ort zwischen den Räumen und Zeiten das Konzept Mind The Gap. Dazu steht im zweiten Bewerbungsbuch auf Seite 47:

„Diese gespenstische Dysfunktionalität sehen wir als symbolischen Denkraum für die Zukunft Europas. Denn wie die Geisterstation scheint auch Europa in vielen Dingen festzustecken. Klimawandel, Migration, Europäische Integration – es bewegt sich nichts, obwohl alle Werkzeuge dafür da wären. Um Europa wieder aus diesen Sackgassen zu holen, braucht es neue, positive Perspektiven. Genau hierfür wird der Künstler Heiner Goebbles die Geisterstation mit einer multimedialen Rauminstallation bespielen. Bekannt ist Goebbels für seine musiktheatralen Kompositionen und sinnlichen Installationen aus Text, Bild, Musik, Licht und Bewegung. Für seine Installation wird er mit seinem künstlerischen Partner René Liebert zusammenarbeiten, und die Geisterstation durch Spiegelungen, Lichteinfällen, Projektionen und Klangskulpturen derart inszenieren, dass sie man mit einem neuen Blick auf Europa verlassen wird.“

[Rohbau/Bauvorbereitung für eine weitere Linie in der U-Bahn-Station Hauptbahnhof unter der in Betrieb befindlichen Station, auch als „Geisterstation“ bekannt. Foto: MarkusH (CC BY-SA 3.0)]

Bewegung: Gier und Güte

Der Raschplatz ist das nördliche Ende der Niki de Saint Phalle Promenade (auf Google Maps hier) und als offener, tiefergelegener Platz mit – nach der baulichen Neugestaltung zwischen 2008 und 2010 – großen Freitreppen vor allem eines: Problemraum, Unort, städebauliche und soziale Schwachstelle im Gefüge der Innenstadt. Er ist Treffpunkt von Trinker*innen, Wohnungslosen und Drogenabhängigen – für viele andere Stadtnutzer*innen ist er eher ein Angstraum, den es zügig zu überqueren gilt, ein Durchgangsraum der unangenehmeren Art.

Nun ist es kein Geheimnis, dass sich marginalisierte Gruppen in der Stadt durch bauliche Eingriffe und Ordnungsmaßnahmen bisweilen verlagern lassen, nicht jedoch vertreiben. Wo sollen sie denn auch hin, wenn es im Stadtraum keinen Platz für sie als Gemiedene gibt? Würde es also gelingen, durch bauliche Eingriffe oder auch durch kulturelle Bespielungen (einen Sommer lang war zum Beispiel eine Open-Air-Bühne mit Musikprogramm auf dem Raschplatz aufgebaut) ein neues, anderes Publikum anzulocken? Die bisherigen Nutzer*innen müssten sich zwangsläufig neue Orte in der Nähe (und damit auch in Bahnhofsnähe) suchen.

Die Sparkasse Hannover ist mit einem hohen Bürogebäude direkte Anliegerin am Raschplatz. Ihre Kantine liegt in der Minusebene, auf einer Höhe mit dem tiefergelegenen Raschplatz. Seit 2018 befindet sich dort die Lichtinstallation Transparentgetrennt Szenen der Gier und Güte von Claudia Piepenbrock, installiert als leuchtende Einzelbuchstaben im obersten Fünftel der Glasfront. Von außen endet der Satz auf Gier, von innen auf Güte. Die Arbeit ist ortsspezifisch entstanden für ein Geldinstitut, das an dieser Stelle seiner Architektur nur durch eine Glasscheibe getrennt ist von einem sozialen Brennpunkt. Das ist pointiert und mutig. Und so beiläufig, dass die Kunst hier – im positiven Sinne – fast verschwindet.


Exkurs: Wir versus Ich

Bis zum Jahr 2018 befand sich am Raschplatz in der Kantine der Sparkasse Hannover noch die Lichtinstallation wir-kl-ich des hannoverschen Künstlers Timm Ulrichs. Sie leuchtete abends ihre Bezüge in Richtung sozialem Brennpunkt. wir und ich als Spiralen, an deren Berührungspunkt Dinge wir-kl-ich werden – das ließ sich als Kommentar zu einer Gesellschaft lesen, in der viele an der individuellen Gewichtung von Gemeinschaft und Ego leiden und verzweifeln. Seit 2018 befindet sich die Arbeit im Eingangsbereich des Sprengel Museum, wo sie zwar noch von weitem bis zur Glasfront und damit nach draußen zu leuchten vermag – im definierten Kunstraum Museum wird sie allerdings abstrakter, verliert unmittelbare Bezüge, die sie am Raschplatz etablieren konnte.

An dieser Stelle sei erlaubt, gedanklich noch einige Meter weiter am Sprengel Museum entlang zu gehen, bis zur umstrittenen Fassade des Erweiterungsbaus des schweizer Architekturbüros Meili & Peters („Bunker“, „Sarg“, „Brikett“). Ulrichs hat ein Stück Musterfassade aus dessen Entstehungsprozess bewahrt und der Öffentlichkeit als Ready Made zugänglich gemacht – als eigenständige und freistehende Skulptur. Die Musterfassade steht seit 2015 in einem Waldstück in der Nordheide: Die Landeshauptstadt schenkte die Arbeit mit der Hilfe von Förderern der Gemeinde Jesteburg, in deren Nähe sich die Kunststätte Bossard als Gesamtkunstwerk und Museum befindet. Dort war das Objekt Teil der Kooperationsausstellung Timm Ulrichs: des großen erfolges wegen zum 75. Geburtstag des Künstlers.

Die Kunststätte Bossard schreibt auf ihrer Website: „Immanent ist darin auch der Gegensatz zwischen Peripherie und Zentrum enthalten. Er wurde in der – vom Künstler durchaus bewusst herbeigeführten – Situation auf die Spitze getrieben, dass der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil, der zur Vernissage am 25. Juni 2015 anreiste, das Sprengel Museum gleichermaßen schon in Jesteburg eröffnete, bevor er am 19. September der Erweiterungsbau des Museums in Hannover feierlich einweihte.“


Zurück und Bewegung: Planung und Wirklichkeit

Am nördlichen Ende des Raschplatzes (auf Google Maps hier) wird er einige Meter weit von der bereits erwähnten Raschplatzhochstraße überdacht. Dort haben sich die Szenen der Wohnungslosen und der Drogenabhängigen aktuell parallel eingerichtet, ein Durchqueren dieses öffentlichen Raums kostet Überwindung. Ausgerechnet hier lohnt sich aber auch ein Blick nach oben für eine ungewöhnliche und unerwaretete Perspektive auf die Installation Hangover von Andreas von Weizsäcker. Sie entstand als Intervention 1991 im Rahmen des Projektes Im Lärm der Stadt von Sprengel Museum und Stiftung Niedersachsen, dessen Kurator Lothar Romain zwischen 1989 und 1995 eine Reihe von Projekten mit Kunst im öffentlichen Raum leitete, bevor er 1996 Präsident der Hochschule der Künste Berlin (HdK) wurde, die er bis 2001 zur Universität der Künste Berlin (UdK) entwickelte.

1993 wurde das Bleiben von Hangover in Hannover und damit die Statusänderung von einer temporären Intervention zu einer dauerhaften Leihgabe beschlossen, erst vor wenigen Jahren wurde die Arbeit von der Landeshauptstadt angekauft. Hangover hat sich also von einer kurzzeitigen Intervention zur langfristigen Perspektive entwickelt. Verändert sich dadurch das Konzept der Arbeit? Ihre Wirkung oder Wahrnehmung?

[Hangover von Andreas von Weizsäcker, unter der Raschplatzhochstraße, installiert im Rahmen des Projektes Im Lärm der Stadt im Jahr 1991 (zunächst temporär, seit 1993 dauerhaft).]

Exkurs: In Bewegung

Das dritte und letzte in den 1990er Jahren von Lothar Romain für die Landeshauptstadt Hannover konzipierte Projekt war BUSSTOPS, das im Jahr 1994 begann und in den darauffolgenden Jahren fertig gestellt wurde. Zehn international renommierte Designer*innen und Architekt*innen waren eingeladen, für den öffentlichen Raum Hannovers Warteräume an Bus- oder Straßenbahnlinien zu entwerfen und umzusetzen. Obwohl gezielt als Designprojekt angelegt, war BUSSTOPS dennoch Teil einer Projektreihe zur Kunst im öffentlichen Raum – und spätestens die Wahrnehmung der Ergebnisse durch Bürger*innen und Besucher*innen der Stadt rückt es wieder in deren Kontext.

Die ÜSTRA Hannoversche Verkehrsbetriebe AG, die das Projekt BUSSTOPS mit initiierte, schreibt dazu auf ihrer Website, die auch eine Übersicht zu allen Objekten und Standorten bietet: „Kunst als außergewöhnlicher Teil einer gewöhnlichen Dienstleistung, so lautete die Aufgabenstellung an die beteiligten Baumeister. Wartezeit sollte nicht weiter automatisch als verlorene Zeit gelten, sondern im Gegenteil zu einem Gewinn für die Sinne der Fahrgäste werden. Es entstanden spielerische Variationen des Themas „Haltestelle“, eine Ästethik des Ab-Wartens wurde geschaffen.“

[BUSSTOP Nieschlagstraße von Wolfgang Laubersheimer, 1994 in der Davenstedter Straße (auf Google Maps hier) installiert.]

Exkurs: Auf Zeit

Hangover von Andreas von Weizsäcker hat sich von einem zeitlich begrenzten künstlerischen Eingriff in den Stadtraum zu einer dauerhaften Landmarke entwickelt. Aktuell findet in Hannover das aufwendige Projekt eines Performancekünstlers statt, der seine Interventionen bewust auf eingeschränkte Zeiträume von etwa einer Stunde beschränkt: Seit Samstag, dem 9. Juli 2022, setzt der Künstler Simon Pfeffel in Hannovers Stadtraum täglich eine Performance um – 100 Tage lang, bis zum Samstag, dem 15. Oktober. Er hat sich mit dem Projekt 100 Days of Performance für den Kunstpreis Hannes Malte Mahler – it is art des feinkunst e.V. in Hannover beworben und den Zuschlag erhalten, immerhin mit einem Budget von 120.000 Euro. Damit ist Pfeffels Performance-Reihe eines der größten und umfangreichsten Projekte der vergangenen Jahre, die zur Kunst im öffentlichen Raum Hannovers gezählt werden können.

Das Vermittlungsprogramm Kunst umgehen der Landeshauptstadt Hannover hat vor kurzer Zeit ein Künstlergespräch mit Simon Pfeffel veröffentlicht.

[Simon Pfeffel auf Instagram: „Day 53; 29.08.2022; Pull me, please.; Kröpcke; Sitzend warte ich auf Passanten, die mich ein Stück ihres Weges mit sich ziehen. Im Prinzip wird die Innenstadt dadurch zum Meer, in dem ich mich treiben lasse, ohne selbst das Ziel zu bestimmen.“]

Zurück und Bewegung: Was wäre gewesen, wenn… I

Nach der Raschplatzhochstraße endet der Raschplatz – und damit auch die tiefergelegte einstige Paserelle – in einem kleinen Plateau, zu dem bereits einige Stufen emporführen (auf Google Maps hier). Es ist Teil eines groß angelegten Aufgangs zur Straßenebene, hier konkret zum Kulturzentrum Pavillon und dem angrenzenden Andreas-Hermes-Platz. Auf dem Plateau dominiert heute die Drogenszene, Graffiti erinnern daran, dass bis vor einigen Jahren die Parkour-Gruppe monkey movement hier trainierte. Und das Figurenensemble Die Frauen von Messina von Rolf Szymanski erinnert daran, dass hier Ende der 1970er Jahre auch noch eine andere Realität von Stadt denkbar war. Dies ist einer jener Wie-würde-die-Stadt-aussehen-wenn…-Orte, an denen sich unterschiedliche urbane Ebenen zu überlagern scheinen.

Als die Landeshauptstadt Anfang der 1970er Jahre mit dem U-Bahn-Bau begann, wurde für das DeFaKa (Deutsches Familien-Kaufhaus, später Horten, Karstadt, Kaufhof und Galeria) ein Ausweichquartier auf dem Andreas-Hermes-Platz gebaut, auf dem sich bis 1963 Teile des Gerichtsgefängnisses Hannover befanden. Es handelte sich um einen provisorischen, etwa 5000 m² großen Flachdachbau, der wieder abgerissen werden sollte, aber schließlich die 1975 gegründete Bürgerinitiative Raschplatz und Projekte der Soziokultur und kulturellen Bildung beherbergte. Heute ist der Pavillon nach einer Sanierung im Jahr 2013 dauerhafter denn je. In den 1970er Jahren (und danach noch bis 2010) erhielten die Betreiber*innen von der der Stadtverwaltung nur jeweils einjährige Nutzungsverträge.

Dennoch war der Standort seit 1958 und noch bis in die 1970er Jahre immer wieder im Gespräch für einen Neubau des Schauspielhauses, das im Krieg in der Südstadt zerstört worden war, so dass das Staatstheater zunächst auf andere Spielstätten ausweichen musste. Zwei Architekturwettbewerbe lieferten in den 1960er und 1970er Jahren konkrete Entwürfe für den Andreas-Hermes-Platz, während die Stadt sich dynamisch weiterentwickelte: Der U-Bahn-Bau brachte den Pavillon und machte eine Untertunnelung des City-Rings am Raschplatz unmöglich, weshalb eine Hochstraße gebaut wurde, der Pavillon wurde schließlich vom Provisorium und einer Zwischennutzung zur Dauerlösung. Das Schauspielhaus wurde schließlich 1992 in der Prinzenstraße eröffnet.

Aber als 1977 Szymanskis Die Frauen von Messina aufgestellt wurden, wäre es noch auf dem Andreas-Hermes-Platz denkbar gewesen, wenn auch mit viel Mühe. Das Figurenensemble scheint den Ort darauf vorbereiten zu wollen – und ist damit aus der Zeit gefallen. Das Gedankenspiel lohnt sich aber dennoch und das Ensemble weist darauf hin: Wie würde Hannover heute aussehen, wenn es als einzige deutsche Großstadt ein Schauspielhaus hinter dem Bahnhof, also auf der „dunklen Seite der Stadt“ hätte?

[Die Frauen von Messina von Rolf Szymanski, Aufgang vom Raschplatz zum Andreas-Hermes-Platz Hannover, aufgestellt 1977.]

Exkurs: Repräsentation und Assoziation

Rolf Szymanskis Figurenensemble Die Frauen von Messina korrespondieren insgeheim und historisch mit dem Konzept eines Gebäudes, das nie an ihrem Standort gebaut wurde. Die Korrespondenz zwischen Kunst und bestehenden Gebäuden, für die sie tatsächlich konzipiert wurde, ist jedoch im öffentlichen Raum weit verbreitet. Die Idee der sogenannten Kunst am Bau ist etwa 100 Jahre alt: In der Weimarer Republik schlugen Künstler*innen-Verbände vor, einen Teil der Bausumme öffentlicher Gebäude für Kunst zu verwenden. Im Lauf der Jahrzehnte entwickelte sich diese Kunst vom Ornament allerdings hin zu mehr Eigenständigkeit, löste sich von der Architektur und behauptete eigene Inhalte. Immer öfter ergeben sich Bezüge auch erst lange nach der Fertigstellung von Gebäuden, irgendwo zwischen Repräsentation und Assoziation.

Der Direktor des Sprengel Museums in Hannover tauschte im Jahr 2015 sogar die Kunst im Eingangsbereich – anlässlich der Fertigstellung des Anbaus wanderte Erich Hausers Plastik Stahl 5/81 hinter diesen (auf Google Maps hier) und machte Platz für Alice Aycocks Objekt Another Twister (auf Google Maps hier), das wiederum subtil Bezug auf die Innenarchitektur des Calder-Saals im neugebauten Museumsteil nimmt.


Exkurs: Profanität und Erhabenheit

Die Prinzenstraße als Standort des Schauspielhaus-Neubaus und die Sophienstraße als der des Künstlerhauses Hannover tauchten bereits auf. Sie teilen sich einen gemeinsamen Hof. Vor allem aber spielte zu Beginn dieser Exkursion die Installation Das große Leuchten von Stephan Huber eine gewichtige Rolle: Beide Kolleginnen des Vermittlungsprogramms Kunst umgehen nannten die Arbeit als Lieblingskunst und erläuterten ausführlich ihre Gründe. Auch diese Kunst bezieht sich zwar auf das Gebäude, ist aber erst zu dessen 150jährigem Jubiläum hinzugekommen.

Weniger bekannt ist ein anderes Objekt im Hof: In einem Winkel hinter der Cumberlandschen Galerie, wo sich der Zugang zu den Werkstätten des Schauspiel Hannover befindet, lohnt ein Blick nach oben. Auf einer Dachfläche steht eine Madonna und macht den Zwischenraum zu einer Art Herrgottswinkel (auf Google Maps hier). Sie war Requisit einer Produktion in der Spielstätte Ballhof und wurde vor Jahren von Bühnentechnikern auf dem Dach installiert. Eine Laune? Dekoration? Eine (pseudo)religiöse Geste? Oder eben doch Kunst? Als Kunst gemeint? Oder gelesen? Braucht sie diese Bezeichnung? Sollte ihr Standort öffentlich sein? Oder will sie als Intervention entdeckt werden?


Exkurs: Der Stadtkünstler

Ein immer noch sehr präsenter roter Faden durch die Stadt sind die Objekte und Reliefs des „Stadtkünstlers“ Kurt Lehmann. Der war von 1949 bis 1969 Professor für Modellieren im Studiengang Architektur der Technischen Hochschule Hannover. Er beinflusste als Bildhauer die künstlerische Entwicklung Hannovers während der gesamten Phase des Wiederaufbaus. Und verließ die Stadt genau zu Beginn des Experiment Straßenkunst, mit dem eine neue Ära der Kunst im öffentlichen Raum begann.

Sein Einfluss manifestiert sich einerseits durch künstlerische Arbeiten aus Bronze und Muschelkalk mit hohem Wiedererkennungsgrad: Bis heute ist er mit etwa 30 davon in der Stadt vertreten, meist streng reduzierten Figuren, inspiriert durch Vorbilder wie Aristide Maillol, den er im Jahr 1930 in Perpignan besuchte. Darunter auch die Attische Figur, bereits 1962 entworfen für den geplanten Bau eines Schauspielhauses auf dem Andreas-Hermes-Platz, heute vor dem oberen Foyer des 1992 in der Prinzenstraße eröffneten (auf Google Maps hier).

Als Kurt Lehmann 1950 die Türgriffe des Opernhauses (auf Google Maps hier) als Repräsentationen der Künste gestaltete, stand sein Sohn Hans-Peter Modell für das Flötenspiel. 30 Jahre später war er Intendant der Staatsoper Hannover. Auf seinem Schreibtisch stand das kleine Modell der Attischen Figur seines Vaters, die für ein Schauspielhaus auf dem Andreas-Hermes-Platz nicht zum Einsatz gekommen war. Dort, im Büro des Intendanten, wurde sie schließlich für das neue Gebäude in der Prinzenstraße entdeckt.


Exkurs: Kunst als Machtbehauptung

Die Platzierung der Frauen von Messina als vorbereitende Maßnahme für eine städtebauliche und kulturelle Setzung – also als den Versuch, durch Kunst Tatsachen zu schaffen, erinnert an eine andere Setzung direkt vor dem Opernhaus aus der gleichen Zeit (auf Google Maps hier). Als der Kunstsammler und -mäzen Bernhard Sprengel, Beiratsmitglied des Experiment Straßenkunst, mit dessen in seinen Augen provinzieller Künstler*innen-Auswahl unzufrieden war, kaufte er auf eigene Kosten das Objekt Hellebardier (Guadeloupe) von Alexander Calder, angeblich, um den Hannoveraner*innen einmal zu zeigen, wie internationale Kunst wirklich aussehe.

Da die Geste eine didaktische war, wurde die Plastik dort platziert, wo sie wirklich jede*r sehen musste: auf dem Opernplatz. Erst 1978 fand sie ihren Platz am Maschsee-Nordufer, gegenüber des von Sprengel ebenfalls gestifteten Museums (auf Google Maps hier). Angeblich war auch der Raschplatz als Standort im Gespräch. Eine weitere Wie-würde-die-Stadt-aussehen-wenn…-Geschichte. Es ging Sprengel jedenfalls ums Mittendrinsein, ums Gesehenwerden, um Repräsentanz, Bedeutung – und wohl auch darum, ein Revier abzupinkeln. Diese Impulse haben seither noch weitere Ideen und Konzepte für den Opernplatz geboren.


Exkurs: Erinnerungskultur

Alexander Calders Hellebardier (Guadeloupe) vermittelt am Maschsee-Nordufer einerseits zwischen dem Kulturort Sprengel Museum und dem Naherholungsareal Maschsee, andererseits setzt sie auch ein deutliches Zeichen der Moderne gegenüber den aus der Zeit des Nationalsozialismus erhaltenen Plastiken am Ufer des Sees – in unmittelbarer Nähe befinden sich Hermann Scheuernstuhls Fackelträger und Fisch mit reitender Putte (auf Google Maps hier).

In der Broschüre Der Maschsee – Bebauung und Skulpturen aus der Zeit des Nationalsozialismus des städtischen Projekts Erinnerungskultur schreibt Karljosef Kreter: „Sechs Skulpturen aus der Zeit des Nationalsozialismus säumen Nord- und Ostufer des Maschsees. Ihre Herkunft löst immer wieder Debatten aus.“ Und weiter: „Unstreitig ist, dass das Ensemble aus dem Staatskunstverständnis der NS-Diktatur hervorgegangen ist.“ Im Audiospaziergang Maschsee – Geschichte weiterdenken, den Stefanie Krebs ebenfalls im Auftrag der städtischen Erinnerungskultur erstellte, nimmt Carina Plath, stellvertretende Direktorin des Sprengel Museums, Bezug auf den Kunsthistoriker Max Imdahl, der Wert darauf legte, dass Ideologie sich in der Haltung und der Intention des Künstlers viel stärker äußere als in der Ästhetik – also von Fall zu Fall differenziert betrachtet werden müsse.


Exkurs: Mehr als ein Moment I

Während am Maschsee das städtische Projekt Erinnerungskultur für einen vermittlenden Zusammenhang der aus dem Nationalsozialismus stammenden Kunst sorgt und auf diese Weise ein dezentrales Mahnmal andeutet, findet in der Aegidienkirche das Gedenken einen zentralen Ort (auf Google Maps hier). Die im 14. Jahrhundert entstandene Kirche wurde 1943 bei den Luftangriffen auf Hannover durch Bomben zerstört. Sie wurde nicht wiederaufgebaut, ihre Ruine dient heute als Mahnmal für die Opfer von Kriegen und Gewalt und beherbergt mehrere künstlerische Arbeiten aus diesem Themenspektrum.

Dorothee von Windheims Schattenlinie entstand im Jahr 1993 im Rahmen des ökumenischen Projekts Kunst in Kirchen Raum geben. Vor Ort Informiert ein Text: „Die Künstlerin hält in einer weißen Linie aus Carrara-Steinen den Schatten fest, den die Südfassade der Gedenkstätte St. Aegidien bei einem bestimmten Sonnenstand wirft. Ein Symbol für die Nähe von Tod und Leben, von Licht und Schatten an diesem besonderen Ort der Erinnerung.“ Welcher Moment hier inszeniert und imaginiert wird, findet keine Erwähnung und inspiriert die Vorstellungskraft weit über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus.

[Dorothee von Windheims Schattenlinie von 1993 im Mahnmal Aegidienkirche ]

Exkurs: Mehr als ein Moment II

Der hannoversche Künstler János Nádasdy hat in seinem Objekt Leineentrümpelung am Hohen Ufer (auf Google Maps hier) gleich drei Situationen dokumentiert: Er fischte in den Jahren 1981, 1987 und 1990 aus einem Kahn heraus in der Leine nach Müll und Schrott, den er danach jeweils zu Ballen pressen ließ – als Momentaufnahmen, Suchbilder und historische Dokumente. Ein Jahrzehnt, bevor Nádasdy den ersten Ballen mit Fundstücken erzeugte, ließ er sich auf eine drei Tage andauernde Situation ein, die er ebenfalls gut dokumentierte: Zum Auftakt des Experiment Straßenkunst beim ersten Altstadtfest im August 1970 führte er seine Aktion Wohnsperre-Wohnkäfig durch, Experiment, Happening, Proklamation und Sozialstudie zugleich. Er schildert seine Erfahrung in diesem Text in einer Veröffentlichung des Vermittlungsprogramms Kunst umgehen:

„“Altstadtfest in Hannover, Eröffnung des Straßenkunstprogramms, 29. August 1970″, so hieß es damals offiziell. Zu Beginn hörte es sich verheißungsvoll an und ich habe mich beworben. Das mit der Straßenkunst hat mich sehr interessiert. Erst später, nach und nach, genau nach dem Lesen eines Artikels im Magazin DER SPIEGEL, erfuhr ich, was da wirklich abgehen sollte: Werbung für die Stadt Hannover! Die Stadt sei nicht attraktiv genug, die Abwanderung der Bevölkerung habe Ausmaße erreicht, die schon die Industrie gefährdeten, hieß es. Oberstadtdirektor Martin Neuffer hat einen Schweizer Imageberater beauftragt, für Hannover eine Werbestrategie zu entwerfen. Riesengaudi mit Kunst ist dabei herausgekommen. Ich habe mich mit einer Aktion beworben – heute hieße es Performance – und ich nannte sie Wohnsperre. Mit meinem Kollegen Jürgen Schneyder war ich der einzige, der als hannoverscher Künstler angenommen wurde.

 „Sonnabend, 29. August 1970, um 8 Uhr. Ich richte mich in der „Wohnsperre“, vor dem Niedersächsischen Landtag, auf den Leinewiesen ein.

9 Uhr. Mit Hilfe von meiner Frau Hanna, mit Andre Spolvint und mit Hilfe meiner Schüler des Hannover Kollegs, baute ich einen Käfig von 4 m². Ich schließe mich hier ein und ich werde ihn bis Montag nicht verlassen…

So steht es im Protokoll, das ich in den zwei Tagen geführt habe. Ich habe mich in der Enge der Wohnsperre wohnlich eingerichtet, gekocht, geschlafen, geschrieben und beim Johlen des Publikums nackt gebadet. Das wichtigste war jedoch die Auseinandersetzung mit dem Publikum. Würstchenbuden, Bierzelte und Musikbands mit der bekannten, ohrenbetäubenden Lautstärke – was sich im Trubel eher als Lärm anhörte – was soll, was kann da noch Kunst? Mit den 4 m² des Wohnkäfigs symbolisierte ich meine Möglichkeiten als Künstler, in Prozesse der Stadtplanung einzugreifen, mitzumachen, zumal in einer Stadt wie Hannover, die im Krieg total zerstört worden war und deren Wiederaufbau noch lange nicht abgeschlossen war. Vor diesem Hintergrund ist die Rolle des Stadtbaurates Hillebrecht in den Nachkriegsjahren der Stadt mehr als zweifelhaft. In seiner Zeit sei nämlich mehr historische Substanz in der Stadt zerstört worden als es in den Bombennächten geschah, heißt es. Die Bildende Kunst kann da, weiß Gott, wenig anrichten.

Martin Neuffers gute Absicht kann heute nicht bezweifelt werden. Es war trotz allem, in vielen anderen Hinsichten, hochinteressant, für mich auf jeden Fall. Kunst so als Werbung einzuspannen, ja, zu missbrauchen, war ein gewagtes Unternehmen, ich glaube, das wusste er und er hat es dennoch gewagt. Es musste was geschehen und er hatte wohl keine andere Wahl. Die Brücke über die Leine am Marstall trägt heute mit Recht seinen Namen. Im Jahr 1974 wurde das Straßenkunstprogramm, nicht nur wegen Mangel an Geldern, eingestellt. Es konnte so nicht funktionieren. […]

Montag, den 31. August 1970, 10.30 Uhr. Ich komme aus dem Käfig heraus. Ich könnte es keine Minute mehr aushalten. Wir beginnen mit der Demontage.„“


Exkurs: Die kleinsten Dinge

Ganz in den Nähe des Objekts Leineentrümpelung zitiert Joseph Kosuth in seiner Lichtinstallation Leibniz Located (exterior) an der Rückseite des Historischen Museums (auf Google Maps hier) den hannoverschen Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz mit einem Blick auf die allerkleinsten Momente und Situationen. Der Satz stammt aus Leibniz‘ Monadologie, seiner Lehre von den kleinsten Dingen und suggeriert, es gebe hinter dem Wahrnehmbaren und zu Begreifenden immer noch etwas Ungreifbares. Der Satz könnte Urbanität definieren – oder Kunst.

[Joseph Kosuth: Leibniz Located (exterior) an der Rückseite des Historischen Museums, Am Hohen Ufer, von 2000 (Foto: ChristianSchd, Creative Commons Lizenz)]

Exkurs: Gefühl für Innenräume I

Die Lichtinstallation Leibniz Located (exterior) korrespondiert mit einem zweiten von Joseph Kosuth installierten Leibniz-Zitat am Verwaltungsgebäude der VGH-Versicherungen im Warmbüchenkamp (auf Google Maps hier) – allerdings ist dieses zweite so am Gebäude angebracht, dass es vor allem aus den Büroräumen gut sichtbar ist. Die Versicherungsgesellschaft hat die Arbeiten gestiftet – und steht auch in einem inhaltlichen Zusammenhang zu Leibniz: Der hat durch seine Formeln die Versicherungsmathematik erst möglich gemacht und hat die erste Gründung einer Brandkasse in den hannoverschen Landen inspiriert. Die VGH schreibt: „Allerdings rief erst 34 Jahre nach seinem Tod Georg Ebell – als Loccumer Abt auch Vorsitzender der Landschaft im Fürstentum Calenberg-Grubenhagen – die erste Versicherungseinrichtung ins Leben. Das Modell entwickelte sich so erfolgreich, dass Landschaften anderer Regionen nach diesem Vorbild eigene Versicherungen gründeten. Einige schlossen sich seit 1850 allmählich zusammen, und daraus entstand die „Landschaftliche Brandkasse Hannover“.“ Diese Landschaftliche Brandkasse gehört noch heute zu den VGH-Versicherungen.

Auch bei der Wahl zweier weiterer Arbeiten beweist die VGH einen ausgeprägten Sinn für den Umgang mit Räumen und Zusammenhängen. Das Objekt Prosopagnostisches Netz von Raimund Kummer im Innenhof des VGH-Neubaus (auf Google Maps hier) wurde bereits von den Vermittlungskolleginnen Anna Grunemann und Christiane Oppermann ausführlich als Lieblingskunst erwähnt. Tatsächlich entwickelt es intensive Bezüge zur umgebenden Architektur. Die Arbeit Die Lieblingsfarben der Niedersachsen von Timm Ulrichs entstand als Kunst am Bau für das Foyer des Neubaus (auf Google Maps hier). Sie zeigt die Visualisierung einer Umfrage unter 1.000 Menschen aus Niedersachsen – eine statistisch korrekte, aber ästhetisch angeordnete Verteilung also. Ulrichs demonstriert künstlerisch die Statistik als eine der Grundlagen der Versicherungsmathematik – und macht sich ein wenig über sie lustig, leise aber hübsch.


Exkurs: Gefühl für Innenräume II

Nicht nur Kurt Lehmanns Attische Figur steht im Hof des Schauspielhauses in der Prinzenstraße fast heimlich am Rande eines Unortes, eines engen, aber offenen Zwischenraumes, an dem Theaterbesucher*innen in Pausen rauchen, und will entdeckt und erschlossen werden. Sie wird seit 2019 flankiert und beleuchtet durch eine zweite Arbeit. Der Ursprung beider Arbeiten liegt weit auseinander, ihre Konzeption noch weiter – und doch sind sie in ihren komplexen Bezügen zur griechischen Mythologie und zu heutigen Übertragbarkeiten verwandt. Sonja Anders, seit der Spielzeit 2019/20 Intendantin des Schauspiel Hannover, ließ in der Nische, aber gut sichtbar vom Foyer aus, eine Leuchtschrift der Künstlerin und Bühnenbildnerin Katja Haß mit einem Zitat von Euripides installieren: LEBE und Rette.

Auch die Licht- und Toninstallation Naherholung von Lindner & Steinbrenner erzeugt ihren eigenen, eher unwahrscheinlichen Raum, mitten in der Stadt an einer belebten Straße. Einige Stufen führen hinab zu einer verfüllten Unterführung, die früher eine Verbindung zum Neuen Rathaus herstellte und heute nur noch Zugang zu einer Tiefgarage ist (auf Google Maps hier). In einer Art Schaufensternische beschwören Lindner & Steinbrenner den Moment, den Ort, die innere Ruhe – und nie ist ganz klar, ob es sich um Hypnose handelt, um Beschwichtigung, ein ernst gemeintes Entspannungsangebot im Lärm der Stadt oder Ironie. Auf jeden Fall aber handelt es sich um eine Verunsicherung.

Einen Minimalraum stellten Heike Mutter und Ulrich Genth 2009 im Rahmen des Lichtkunstfestivals Neulicht am See mit ihrer temporären Intervention Arrangement mit Kran, Spiegel, Fackelträger und Stabile am Maschsee-Nordufer für Hermann Scheuernstuhls Fackelträger her: Sie hielten ihm mittels Baukran einen Spiegel vor – im physikalischen wie im metaphorischen Sinne. Erinnerungskultur kann auch mit kluger Neukontextualisierung funktionieren.


Zurück und Bewegung: Was wäre gewesen, wenn… II

Ein Nachdenken über Strategien der Erinnerungskultur führt zurück zur eigentlichen Route: Einige Stufen führen nach links endgültig wieder auf die Straßenebene (auf Google Maps hier). Hier steht das Mahnmal Gerichtsgefängnis von Hans-Jürgen Breuste, 1989 nach langen Auseinandersetzungen aufgestellt, um an die dunkle Vergangenheit des Andreas-Hermes-Platzes zu erinnern, der bis 1963 fast genau 100 Jahre lang Standort des Gerichtsgefängnisses Hannover war. Hier wurde der Serienmörder Fritz Haarmann 1925 hingerichtet. Hier saß der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann 1937 bis 1943 in Isolationshaft. Die Inschrift des Mahnmals bezieht sich ausdrücklich auf „Gegner und Gegnerinnen des Nationalsozialismus“.

Auf Teilen des Andreas-Hermes-Platzes befindet sich heute das Kulturzentrum Pavillon, das 2016 die historischen Schichten seines Standortes in einem ortsbezogenen App-Game für Smartphones im Rahmen des partizipativen Projektes Pavillon Prison Break recherchierte und erlebbar machte. Das Spiel muss an den thematisierten Orten gespielt werden, erfordert also auch ein aktives Beobachten und Agieren in öffentlichen Räumen.


Exkurs: Der Geschichte etwas entgegensetzen: Sammeln

Wo Hans-Jürgen Breuste beim Mahnmal Gerichtsgefängnis sehr klar und eindeutig vorging, verand auch er es bei anderen Arbeiten Zusammenhänge neu herzustellen und und so historische Objekte mit neuer Bedeutung aufzuladen. Er hat zum Beispiel ein Hand- und Fuß-Objektpaar im Stadtraum Hannovers hinterlassen: Eine Granitfaust als Teil seines Objektes Bogside 69, 1981 anlässlich des 20jährigens Bestehens von Amnesty International in der Osterstraße aufgestellt (auf Google Maps hier), und einen Fuß aus dem gleichen Material, der er Anfang der 1980er Jahre vor der von ihm eingerichteten Schankwirtschaft Barfuß am Holzmarkt als Biertisch aufstellte (auf Google Maps hier).

Beide überdimensionalen Körperteil-Nachbildungen sind Fragmente von Großplastiken, die das NS-Regime in einem Steinbruch nahe Nürnbergs von Arno Breker und dessen Schülern herstellen ließ. Hans-Jürgen Breuste, zeitlebens Sammler von Versatzstücken, brachte sie Ende der 1970er Jahre mit nach Hannover, wo er die fremden Relikte aus einer anderen Zeit, Ideologie und Gesellschaft schließlich umwidmete, als Sinnbilder, aber auch als Übersetzungen in neue Zusammenhänge überführte: Die Faust fesselte er mit Stahlbändern als Sinnbild des Faschismus, den Fuß setzte er der Profanität des Alltags(er)lebens aus.


Exkurs: Der Geschichte etwas entgegensetzen: Dezentralität

Wo Kunst an manchen Stellen historische Objekte und Orte mit neuen und alternativen Bedeutungen aufzuladen vermag, kann und muss sie anderswo auf Zusammenhänge erst hinweisen. Der Ballhofplatz erscheint vielen Hannoveraner*innen heute als gut erhaltener mittelalterlicher Stadtplatz (auf Google Maps hier). Das Areal war jedoch bis in die 1930er Jahre eng bebaut und dicht besiedelt, die mittelalterliche Bausubstanz war in schlechtem Zustand. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten führte Stadtbaurat Karl Elkart ein groß angelegtes „Sanierungsprojekt“ durch, bei dem mit dem Freilegen des historischen Ballhof-Gebäudes durch großflächigen Abriss auch politische, soziale und rassistische „Säuberungen“einher gingen. Der Ballhof-Komplex im neuen Gewand umfasste auch zentrale Gebäude für Hitlerjugend und den Bund Deutscher Mädel (BDM). Bis heute ist an einem der Gebäude ein Zitat des nationalsozialistischen Dichters und Judenhassers Georg Stammler zu lesen.

Gegenüber dem Ballhofplatz, vor dem Historischen Museum, machen zwei Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig darauf aufmerksam, dass hier Esther und Herschel Grünspan lebten (auf Google Maps hier). Als Herschel Grünspan in paris von der Deportation seiner Familie erfuhr, verübte er ein Attentat auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath – das von den Nationalsozialisten als Vorwand für die schon lange geplanten Pogrome gegen in Deutschland lebende Juden und Jüdinnen diente. Im Rahmen der folgenden Novemberpogrome 1938 kam es auch zur sogenannten Reichskristallnacht.

Das Projekt Stolpersteine, das der Künstler Gunter Demnig seit 1992 zunächst deutschland-, später auch europaweit durchführt, gilt als das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Es soll jeweils vor Ort an das Schicksal von Menschen erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt, ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Suizid getrieben wurden. Eine Übersicht über alle 453 bislang in Hannover verlegten Stolpersteine finden Sie hier.


Exkurs: Mobilitätskonzepte

Das Prinzip, unliebsame städtische Strukturen zugunsten weitgreifender Konzepte zu zerstören, setzte nach dem Krieg ab 1948 Rudolf Hillebrecht als Stadtbaurat Hannovers fort. Er war während des Nationalsozialismus Mitglied in Albert Speers Wiederaufbaustab und brachte von dort die Vision einer „autogerechten Stadt “ mit – und die Bereitschaft, Teile der nicht im Krieg zerstörten Stadt dafür abzureißen. So entwickelte er Hannover konsequent zu einer Stadt des Individualverkehrs – was sich heute als schweres Erbe erweist.

Noch 1986 setzte die Landeshauptstadt auch künstlerisch auf „autogerechte“ Konzepte und ermöglichte gemeinsam mit Förderern bis zum Jahr 2000 die Entwicklung der Skulpturenmeile des Galeristen Robert Simon, eine Aufreihung großformatiger Stahlplastiken auf dem Mittelstreifen der sechsspurigen Verbindung von Friederikenplatz und Königsworther Platz. Noch vor wenigen Jahren warb ein hochrangiger SPD-Lokalpolitiker für das „autogerechte“ Konzept der Skulpturenmeile.

Im Gutachten einer temporären Expert*innen-Kommission für Kunst im öffentlichen Raum steht hingegen: „Auffallend viele Plastiken und Skulpturen aus allen Jahrzehnten finden sich in Hannover auf Grünstreifen zwischen den Fahrbahnen stark befahrener, oft vielspuriger Straßen – eine verbreitete Praxis der 1960er Jahre, als Stadtplanung noch vom Konzept der ›Autostadt‹ ausging. Auch ein Großteil der in der Skulpturenmeile zusammengefassten Arbeiten befindet sich auf Grünstreifen, dies liegt ihrem Konzept wahrscheinlich teilweise zugrunde. Eine solche Präsentation kann nur den wenigsten (meist ungewöhnlich großen) Objekten gerecht werden, alle übrigen können dabei ihre Wirkung nicht oder nur ungenügend entfalten. Sie können lediglich von weitem durch den fließenden Verkehr oder aber aus einem sich bewegenden Verkehrsmittel wahrgenommen werden. Selbst wenn es dem Betrachter gelingt, den Grünstreifen zu betreten, kann er die Arbeiten dort meist nicht einmal umrunden und ist in seiner Rezeption auf wenige Perspektiven reduziert, die an Straßenverlauf und Verkehr ausgerichtet sind. Die Platzierung von solcher ›Mittelstreifenkunst‹ ist spätestens seit den 1980er Jahren umstritten. Auch Kunst, die in Hannover nicht zwischen, sondern neben Fahrbahnen platziert ist, richtet sich meist geometrisch am Verlauf der Straße aus – eine starre Betonung überkommener städtischer Schwerpunkte, welche die Kunst (und den Menschen) unterzuordnen scheint.“


Exkurs: Platz machen I

Hannover ist baulich im Umbruch. Nicht zuletzt soll hier eine Mobilitätswende gelingen, die nicht mehr zeitgemäße Verkehrskonzepte aufzubrechen vermag. Aber auch grundsätzliche Nutzungs- und Aufenthaltskonzepte sollen wesentlich verbessert werden. Der Steintorplatz (auf Google Maps hier) ist ein Ort, an dem sich zum Beispiel in den kommenden Jahren gewaltige Veränderungen ergeben sollen, sowohl in Sachen Gestaltung als auch in Sachen Kunst. Das wird zwar erfreulicherweise Hand in Hand geschehen: Ina Weise ist als Künstlerin Teil des Teams um das Landschaftsarchitekturbüro Grieger Harzer Landschaftsarchitekten aus Berlin, das mit seinem Entwurf den freiraumplanerischen Wettbewerb für den Steintorplatz im Jahr 2019 gewann.

Leider scheint die Kunst aber Juniorpartnerin in Geschehen zu sein und kann kaum konzeptionelle Augenhöhe einlösen – auch wenn die geplante Lichtstele mit dem Arbeitstitel Statistische Säule 25 Meter hoch sein wird. (Zu Planungen, Ideen und Konzepten sowie zur Perspektive der Künstlerin hat das Vermittlungsprogramm Kunst umgehen 2020 ein Künstlerinnen-Gespräch veröffentlicht. Dort sind auch Visualisierungen der geplanten Kunst zu sehen.)


Exkurs: Platz machen II

Der Ewigkeitsanspruch (an) manche(r) Künstler*innen und ihre(r) Objekte im Stadtraum Hannovers ist kein neues Thema. Neu ist seit etwa 20 Jahren, dass der entsprechende Diskurs kritisch geführt wird. Der künstlerische Ideenwettbewerb Entsorgungspark für funktionslose Kunst im öffentlichen Raum, den im Jahr 2005 der Kunstverein Hildesheim in Kooperation mit der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und der Fakultät für Architektur und Landschaft der Leibniz Universität Hannover ausschrieb, beschäftigte sich kritisch-provokativ mit der Frage: Wohin mit all der Kunst, die ihre Bezüge verloren hat, die dynamische Stadträume nur noch blockiert? Er sollte vor allem in Hannover eine Diskussion darüber in Gang bringen, welche Zukunft eine Kunst im öffentlichen Raum haben könnte – und um welche Kunst es dabei eigentlich gehen könnte.

Gewinner des Wettbewerbs waren die beiden jungen hannoverschen Architekten Arne Hansen und Nils Nolting vom damals neu gegründeten Planungsbüro Cityförster. Die Jury schrieb: „Die Preisträger schlagen vor, drei Monate lang alle Kunstwerke im öffentlichen Raum der jeweiligen Stadt mit feinem, rundkörnigem Sand zu überschütten, bis nichts mehr von ihnen zu sehen ist. Jeder Standort erhält einen Eimer und eine Schaufel, in unmittelbarer Nähe zum Kunstwerk wird eine Fläche mit Absperrband markiert, auf die der abgetragene Sand geschüttet werden kann. Kunstwerke, die zum Ende der Aktion noch nicht mindestens zu 2/3 ausgegraben worden sind, werden von ihrem Standort entfernt und mit dem Sand zurück in die Sandgrube gebracht. Dort werden sie mit Sand bedeckt und auf unbestimmte Zeit gelagert. Das Konzept stellt die Frage in den Mittelpunkt, wie eine Funktionslosigkeit festgestellt oder bewertet werden kann, welche Kunst entsorgt werden soll. Es aktiviert dabei jene, die es angeht: die Bürger. Deren selbstbestimmtes, mündiges Handeln ist gefragt, um aktiv über die Zukunft der Kunst zu entscheiden. Das Prinzip ist einfach und nachvollziehbar, jeder kann sich beteiligen. Jurys und Kommissionen werden nicht benötigt. Der Ansatz ist positiv: Was abgeräumt wird, wird dennoch nicht zerstört, sondern für spätere Generationen bewahrt.“

Das Vermittlungsprogramm Kunst umgehen veröffentlichte 2020 ein Künstlergespräch, in dem die Preisträgen nach 15 Jahren auf ihr Konzept zurückblicken.

[Aus dem Beitrag Kunst angehäuft von Arne Hansen und Nils Nolting zum künstlerischen Ideenwettbewerb Entsorgungspark für funktionslose Kunst im öffentlichen Raum von Kunstverein Hildesheim, Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und Leibniz Universität Hannover.]

Exkurs: Diskurshauptstadt III

Das Urban-Art-Festival Hola Utopia lud im August 2021 Künstler*innen ein, in Hannover Fassaden zu gestalten. Vorab war mit Anwohner*innen in Workshops über die Inhalte möglicher Motive gesprochen worden. Das scheint heute bereits auszureichen, um als „sozial und ökologisch motiviertes Street Art Festival“ erhebliche Fördergelder von Kommune, Land und Bund zu erhalten. Dass es sich bei den bemalten Hauswänden zumeist um welche handelte, die einschlägigen Immobilienkonzernen gehören, war den beiden Festivalorganisatoren – die selbst mit der kommerziellen Gestaltung von Fassaden zu den Auftragnehmern solcher Konzerne gehören – selbstverständlich bewusst. Die Förderer wiederum schien Hola Utopias Beitrag zu Gentrifizierung und Art Washing nicht weiter zu interessieren. Dass es sich bei fast allen künstlerischen Beiträgen um affirmatives, gefälliges Design – und damit eher um Kunsthandwerk – handelte, fiel zumindest einer breiten Öffentlichkeit kaum auf. Dass die Wandbilder bunt, großformatig und niedrigschwellig waren, genügte auch der Presse, um über sie unkritisch als Kunst zu berichten – im Lokalteil, nicht auf den Kulturseiten. Der Autor war sich nicht einmal zu schade, einen der Akteure mit Michelangelo und sein kitschiges Tigermotiv mit der Sixtinischen Kapelle zu vergleichen.

Da tröstet es zumindest ein wenig, dass das Berliner Kollektiv Cuadro Frezca die Feigenblätter und Nebelkerzen des Festivals durchschaute und beschloss, sich nicht instrumentalisieren zu lassen und ein kritisches Motiv umzusetzen, das von den eingereichten Entwürfen abwich. Seine Arbeit, die als einzige im Festival genug konzeptuelle Eigenständigkeit entwickelte, um sich über beauftragte Dekoration zu erheben und zwischen anderen als Kunst herauszustechen, setzt sich kritisch mit dem Immobilienkonzern vonovia auseinander – also dem Eigentümer der gestalteten Wand eines Mietshauses in Roderbruch. Der Gebirskamm eines Alpenidylls entpuppt sich als steil steigender Börsenkurs des Unternehmens – und das rechte Drittel des Motivs bleibt frei, entsprechend dem Drittel jedes Euros Miete, den vonovia nicht in seine Häuser investiert, sondern an Aktionär*innen als Gewinn ausschüttet. Zum Glück konnte eine Intervention des Kulturdezernats der Landeshauptstadt Hannover zunächst verhindern, dass Cuadro Frezcas Intervention übermalt oder verändert wurde – dass die Kuratoren des Festivals sich nicht hinter ihre kritischen Künstler stellten, spricht hingegen Bände.

[Das Berliner Kollektiv Cuadro Frezca bei der Fertigstellung seines Wandbilds am Gebäude Osterfelddamm 39 in Roderbruch (auf Google Maps hier).]

Zurück: Alles bleibt offen

Von den gedanklichen Abschweifungen zurück am Ende der kurzen, digital zurückgelegten Strecke zwischen Ernst-August-Denkmal und Mahnmal Gerichtsgefängnis, bleibt nur ein offener Blick nach vorne. Würden Sie am Kulturzentrum Pavillon entlang gehen und an dessen Eingang die Straßenseite wechseln, stünden Sie vor einem gelb bemalten Gedenkstein, der an der „Gorleben Treck 1979“ erinnert und tatsächlich als Findling aus dem Wendland nach Hannover transpoertiert wurde (auf Google Maps hier). Keine Kunst natürlich und auch als Denkmal eher improvisiert. Aber er lässt an die bewegten Zeiten denken, in denen das Kulturzentrum Pavillon seine Anfänge als Ort von Bürgerinitiativen und soziokulturellen Projekten erlebte. Es ist immer noch hier, inzwischen saniert und mit Solarpanels auf dem Dach – und mit einem ordentlichen, langfristigen Mietvertrag ausgestattet. Hannover ist seit Jahrzehnten ein Ort, an dem Dinge aus Diskursen und Initiativen erwachsen. Das wird so schnell nicht aufhören.

[Keine Kunst, aber ein Stück Geschichte: Der Gedenkstein des Gorleben-Trecks von 1979 gegenüber des Kulturzentrums Pavillon, ein Findling aus dem Wendland, mitgebracht zur Abschlusskundgebung mit 100.000 Menschen. Das Gebäude des Kulturzentrums Pavillon wurde der Bürgerinitiative Raschplatz e. V. erstmals 1977 von der Landeshauptstadt überlassen. (Foto: Bernd Schwabe – CC BY-SA 3.0).]

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