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Auch Minusgrade bringen Frank Nordiek nicht davon ab, die erste Hälfte seines Workshops nach draußen zu verlagern. Landschaftskunst oder eben Land Art braucht nun einmal die Natur als Material, als Ort oder als Kontext. Erst wird gemacht, dann wird geredet – aus der Erfahrung und dem eigenen Erleben kann ein besseres Verständnis erwachsen. Und schließlich existieren öffentliche Räume zu jeder Jahreszeit und bei jedem Wetter. Das sollte so auch auf die entsprechende Kunst zutreffen. Außerdem scheint die Sonne. Zur Begrüßung und Vorstellung im Jesteburger Schützenhaus hat Nordiek jedoch zunächst ein wenig Natur nach drinnen gebracht: Er hat entlang des ursprünglich geplanten Kunst- und Naturpfads Haselstöcke geschnitten und auf dem Boden in einer Reihe ausgelegt.

Jeder Stock ist individuell, ist länger oder kürzer als andere, hat eine andere Biegung oder fasst und fühlt sich ganz einfach anders an. Nordiek fordert die Teilnehmer*innen auf, sich einen auszusuchen, der jeweils zu ihnen passt, und ihn mit auf den Weg nach draußen zu nehmen – als „Detektor“, wie es der Künstler nennt, als „Sensor für öffentliche Orte“. Es bleibt zunächst bei der Benennung und Behauptung. Aber es ist deutlich zu sehen, wie viele ihren nun persönlichen Stock in der Hand wiegen, sich mit ihm vertraut machen, eine Art Verbindung aufnehmen. Das scheint sich erstmal gut anzufühlen.







Nordiek führt die Gruppe in ein nahegelegenes Waldstück mit moorigem Boden und kündigt an, nun gelte es, zweite Teile für die „Detektoren“ zu finden, die sie erst vervollständigen würden: „Sensorköpfe“, „Messspitzen“. Es handelt sich dabei um Äpfel, die zwischen den Bäumen zu finden sind, manche rotgelb glänzend, andere ein wenig angefault oder angefroren. „Wie gammelig die sind, hat auf das Messergebnis keinen Einfluss“, sagt Nordiek und zeigt, wie die Äpfel auf die Stöcke gesteckt werden sollen. Dann macht er vor, wie die bestückten „Detektoren“ in den Boden gesteckt werden, um einen Ort zu markieren, einen Fokus zu wählen und so die Wahrnehmung zu verändern.






Als alle Teilnehmer*innen Ihre Stöcke platziert haben, bittet Nordiek sie, einige Schritte zurück zu gehen: „Bittesehr, das ist unsere erste Landschaftskunstinstallation.“ Und tatsächlich, so simpel das Konzept hier zunächst ist, das Prinzip wird klar. Durch eine gezielte Setzung entsteht ein Unterschied, heben sich bestimmte Orte ab, verbinden sich mit anderen, entwickeln im besten Fall eine Magie oder etwas Geheimnisvolles, beginnen, Geschichten zu inspirieren. Und schon schärft sich der eigene Blick auf die umgebende Natur: Irgendetwas ist anders mit dieser Baumgruppe. Es könnte sich um eine Pflanzung handeln, denn immerhin wachsen die Bäume fast geordnet, in Reihen. Der Ort wird durch die Beobachtung besonders, wird individuell. „Ich habe erst nur auf den Boden geschaut, so hätte ich das nie entdeckt“, sagt eine.




Wie lässt sich also die Wirkung, die Präsenz der beapfelten Stöcke steigern, wie lässt sich ein Zusammenhang suggerieren, eine gemeinsame Form andeuten? Sie sollen an einem gemeinsamen Ort zusammengerückt werden, auf den sich alle Teilnehmer*innen einigen sollen. „So etwas geht in Jesteburg nicht“, sagt einer. Und dann ist der Ort doch schnell gefunden, die Stöcke um eine Pilzgruppe als ungewöhnlichen Mittelpunkt herum arrangiert. Sie schwanken ein wenig, scheinen in unterschiedliche Richtungen zu drängen und zu deuten. Und doch: von einem gemeinsamen Ort aus. Landschaftskunst mit ihrer schnell erkennbaren Ästhetik sorge oft für eine Befriedung der Geister, so Nordiek. Sie bringe Saiten in den Menschen zu schwingen und löse Erinnerungen aus: „Jeder hat in seinem Leben schon mal mit Natur gespielt.“





Immer mehr einfache Arrangements verdeutlichen gemeinsame Gestaltungsmöglichkeiten; Stöcke und Äpfel lassen sich immer neu formieren. Oft stehe ein unbedingter Wunsch am Beginn seiner Kunst, so Nordiek: „Das will ich sehen.“ Das funktioniere natürlich nicht nur im Wald: „Auch architektonisch geprägte Räume können Orte für Installationen mit Naturmaterial sein.“ Die nüchtern industriell anmutende Rückseite des Familla-Marktes gegenüber des Schützenhauses zum Beispiel. Die wird plötzlich zu einem fast neutralen Galerieraum, zu einer grauen Leinwand für eine „Punkt-Strich-Installation“ mit Stöcken und Äpfeln. Anlass für Diskussionen um Nuancen und Feinheiten: „Wenn das jetzt meine Arbeit wäre, würde ich einen umstellen…“ Wie gelingt eine Balance, eine Spannung, eine Harmonie?







So oder so, Nordiek ist sicher: „Wir haben den Ort für uns aufgeladen, das geht auch durch temporäre Installationen – wir werden hier nicht mehr vorbeigehen können, ohne an Apfelreihen zu denken.“ Würde eine der improvisierten Installationen allerdings bleiben, sie würde am nächsten Tag zum Fremdkörper werden, zur Provokation für Menschen, die an der Anlieferungsrampe des Marktes ihre alltägliche Arbeit verrichten. Oft entscheiden Zusammenhänge über Harmonie oder Störung, Situationen, Zeitpunkte, Stimmungen. Und natürlich Perspektiven und Haltungen. Die Steinhaufen auf der Baustelle für ein Flüchtlingsheim wirken schließlich selbst wie eine bewusste ästhetische Setzung. Sie werden ebenfalls bald verschwunden und verarbeitet sein. Sie werden nur in Erinnerungen und Bildern weiter existieren, wie die schnelle Apfel-Stock-Installation auf ihnen.









Schließlich verbleiben die „Detektoren“ auf einer Wiese vor dem Bauhof der Gemeinde. „Da arbeiten die wahren Experten für öffentliche Räume“, sagt Nordiek. Und fügt hinzu: „Denen widmen wir jetzt unsere letzte Installation.“ Gesagt, getan, jede*r wählt nacheinander einen geeigneten Standort für seinen Haselstock, jeweils in Bezug zu einem bereits gesteckten. Es entsteht ein heterogene Einheit, ein Abbild der Gruppe. Und ein wenig schnelle Landschaftskunst für kurze Zeit.





Er mache jetzt seit 25 Jahren Landschaftskunst oder eben Land Art, sagt Nordiek zu Beginn des zweiten Teils der Veranstaltung, zurück im Schützenhaus: „Ich habe meine Sensoren dabei längst im Kopf, wenn ich mir einen Ort ansehe.“ Die Apfelstangen sind letztlich natürlich Metaphern, sie stehen für seine intuitive Herangehensweise als Künstler, für seinen professionellen Blick auf die Potentiale einer Landschaft. Anfangs sei er oft einfach losgegangen, habe sich an Orten treiben lassen, spontan etwas gemacht, Installationen und Eingriffe hergestellt und dokumentiert. „Das war das Frühwerk, meist ohne Auftrag“, so Nordiek. Inzwischen werde er in der Regel eingeladen, an bestimmten Orten zu arbeiten.

Ein kurzer Film, der 2019 in der schwedischen Gemeinde Svenljunga entstand, zeigt Nordiek beim Entwickeln einer Idee. Das Land-Art-Projekt (X)sites hatte Künstler*innen bestimmte Orte vorgegeben und sie bei der Erstbegegnung gefilmt. Der Ort im Film ist eher eine Brache, ein Nicht-Ort. Nordiek sagt in der Dokumentation zunächst offen, dass ihn das alles nicht allzu sehr inspiriert: „I don’t have an idea yet.“ Doch dann geht er einen Abhang hinab, hat das Gefühl, dabei lieber rennen zu wollen – und hat spontan die Idee, oben eine Art Flugmaschine aus Ebereschen-Zweigen aus der Nähe zu bauen, eine libellenartige Konstruktion, in der man sitzen kann. Trollslända (Libelle) heißt die Installation dann auch. Sie bleibt drei Monate lang und wird dann wieder demontiert.




Manchmal entstehe seine Kunst eher für Augenblicke und die entsprechende Dokumentation, so Nordiek, manchmal für das Erleben eines Augenblicks oder Prozesses, mal für einen festgelegten Zeitraum, mal für die Zeit, die es eben dauert, bis etwas vergeht – und manchmal erhalte er den Auftrag, etwas Dauerhaftes entstehen zu lassen. Ein kurzer, assoziativer, historischer Exkurs führt zu den Anfängen bestimmter Formate und Konzepte der Land Art. „Ende der 1960er Jahre begann die in den USA keinesfalls mit behutsamen Eingriffen“, so Nordiek. Er zeigt Bilder von der monumentalen Landschaftsinstallation Spiral Jetty, die Robert Smithson im Jahr 1970 am Rande des Großen Salzsees im Norden des Bundesstaates Utah als Reaktion auf eine benachbarte industrielle Struktur entstehen ließ – und die sogar aus dem All zu sehen ist.

Als herausragenden Vertreter einer europäischen Land Art nennt Nordiek den Briten Richard Long, der mit großer Zurückhaltung agiert und mit seinen konzeptionellen Arbeiten ungern dauerhafte Spuren hinterlässt – außer eben in der Vorstellungskraft und in der Folge in der veränderten Wahrnehmung von Landschaft. Auch Walter de Marias Arbeit Vertikaler Erdkilometer auf dem Kasseler Friedrichsplatz, 1977 zur documenta 6 entstanden, setzt bis heute auf die Fantasie der Betrachter*innen, die nur eine Sandsteinplatte und das obere Ende eines Messingstabs sehen können, nicht jedoch dessen einen Kilometer langen senkrechten Verlauf in der Erde.

Nordiek zeigt auf Dauerhaftigkeit angelegte Installationen des Atelier Land Art (gemeinsam entstanden mit dessen Co-Gründer Wolfgang Buntrock) für das Erlebnis Würmsee in Burgwedel in der Region Hannover, einen Pfad, der historische Aspekte des Areals erlebbar macht. Zwischen Objekten mit klaren Bezügen steht eine aus Stöcken und Draht gebaute Behausung, die auf Eichenstämmen im Wasser ruht – als bewusstes Rätsel: „Wer hat das gebaut? Wer wohnt da? Was wissen wir nicht?“ Eine Erinnerung daran, dass die Natur noch viele Geheimnisse birgt. In solchen Arbeiten stecke automatisch Vergänglichkeit, sagt Nordiek: „Wir wissen, dass die endlich sind und lassen sie zurück.“


Manche Prozesse sind hingegen bewusst inszeniert. Das Projekt Eichenkeimlinge, das 2016 für den Park der Staff-Stiftung in Lemgo entstand, zum Beispiel. Nordiek und Buntrock stellen hier neu wachsenden Eichen aus unter zu fällenden, sehr alten Alleebäumen gesammelten Eicheln Holzskulpturen gegenüber, die aus den Stämmen der Bäume entstanden. Während ein Element gedeiht, vergeht das andere: ein gegenläufiger Prozess. Aber eben auch eine Geschichte – zum Teil vorgefunden, zum Teil weitererzählt.






[Alle Fotos von Workshopsituationen: Sophie Casna.
Alle Fotos von künstlerischen Arbeiten von Frank Nordiek oder Atelier Land Art: Atelier Land Art.]
Nachgespräch
Eine gute Woche nach Frank Nordieks Workshop traf er sich mit Akademie-Projektleiter Thomas Kaestle zu einem digitalen Nachgespräch. Für die Teilnehmer*innen des Workshops ergibt sich hier möglicherweise die eine oder andere Vertiefung, Verortung oder Reflexion. Vor allem ist die Aufnahme aber ein Angebot an all jene, die nicht zum Workshop mit Frank Nordiek kommen konnten oder wollten: Sie haben hier Gelegenheit, den Gastkünstler mit seinen Herangehensweisen, Strategien, Ideen, Hintergründen und Erlebnissen kennenzulernen. Wie geht er mit öffentlichen Orten um, was interessiert ihn daran, welche Kunst entspricht seinen Schwerpunkten?
Unter diesem Absatz finden Sie das Nachgespräch als Video- und als Audiomitschnitt. Sie entscheiden selbst, ob Sie nur hören wollen oder dabei die Gesprächspartner auch sehen wollen.
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