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„Wir haben seit Montagabend versucht, Jesteburg zu verstehen“, sagen Lotte Lindner & Till Steinbrenner am Samstag zu Beginn ihres Workshops im Jesteburger Schützenhaus. Für eine knappe Woche haben die beiden ihr Atelier in Hannover gegen die öffentlichen Räume der Gemeinde getauscht, um Eindrücke zu sammeln, in Gesprächen nachzuhaken, zu brainstormen. Sie haben Jesteburg dabei als „komplexes System“ erlebt, sagt Steinbrenner. Und ergänzt: „Wir können gut über Kunst oder über öffentliche Räume sprechen – aber wir können nicht als Experte und Expertin über Jesteburg sprechen.“ Es geht also zwangsläufig darum, die Außenperspektive der Kunst-Profis zu ergänzen durch die Innenperspektive der Jesteburg-Profis.

Einige davon sitzen an den Tischen rund um Lindner und Steinbrenner und geben Auskunft darüber, was öffentliche Räume für sie ganz persönlich ausmacht. „Ein Ort, den ich jederzeit erreichen kann“, sagt eine, „alles was nicht privat ist“ eine andere. Die Grenzen und Regeln erweisen sich dabei schnell als verhandelbar. In der Kindheit habe sie zum Muttertag auch in fremden Gärten Blumen gepflückt, erzählt zum Beispiel eine Teilnehmerin. Juristisch sei in Deutschland zumindest das Privateigentum klar definiert, klärt Steinbrenner auf: Der Luftraum und das Erdreich gehörten trichterförmig zu einem Grundstück dazu, sagt er – mit etlichen Ausnahmen natürlich, wie Überflugrechten oder Bodenschätzen.

Jemand versucht sich an einer Nutzungsdefinition: „Einen öffentlicher Raum kann ich mit anderen teilen, mich treffen, dort genießen oder aufleben – das gehört zum Menschsein.“ Es geht also auch um Freiräume, die sich alle aneignen können, um Begegnungsräume, konsumfreie Räume, spontane Gemeinschaften und die Möglichkeit, sich barrierefrei einbringen zu können. Es geht um das Dorfgemeinschaftshaus im Ortsteil Itzenbüttel und ganz allgemein um den Eigentumsbegriff: „Dürfen wir uns denn überhaupt einzäunen und Orte dauerhaft der Öffentlichkeit entziehen?“ In Schweden zum Beispiel sei gefühlt alles offen, in Südafrika gefühlt alles eingemauert.


„Lindner und Steinbrenner stellen dazu eine Frage, die seit vielen Jahren Bürger*innen-Bewegungen beschäftigt, ganz prominent zum Beispiel in Hamburg: „Wem gehört die Stadt?“ Es gebe inzwischen viele Beispiele dafür, wie sich Menschen mit kreativem Blick und subversiven Strategien Orte zu eigen machen können, Zugangsschranken temporär überwinden oder hinterfragen können. Und einer ist der Meinung: „Manchmal muss man es einfach machen.“ Dabei stelle sich aber doch die Frage, so ein anderer, ob noch öffentlich sei, was sich jemand aneigne. Zur juristisch-politischen Definition öffentlicher Räume zähle also auch die – künstlerisch relevante – Frage: „Wo darf ich einfach was hinstellen?“ Und die häufig nachfolgende: „Und wenn das jede*r machen würde?“Lindner und Steinbrenner stellen dazu eine Frage, die seit vielen Jahren Bürger*innen-Bewegungen beschäftigt, ganz prominent zum Beispiel in Hamburg: „Wem gehört die Stadt?“ Es gebe inzwischen viele Beispiele dafür, wie sich Menschen mit kreativem Blick und subversiven Strategien Orte zu eigen machen können, Zugangsschranken temporär überwinden oder hinterfragen können. Und einer ist der Meinung: „Manchmal muss man es einfach machen.“ Dabei stelle sich aber doch die Frage, so ein anderer, ob noch öffentlich sei, was sich jemand aneigne. Zur juristisch-politischen Definition öffentlicher Räume zähle also auch die – künstlerisch relevante – Frage: „Wo darf ich einfach was hinstellen?“ Und die häufig nachfolgende: „Und wenn das jede*r machen würde?“



Für Lindner und Steinbrenner ist vor allem das Ergebnis wichtig, dass jede*r Bürger*in sich in unterschiedlichen öffentlichen Räumen bewegt, je nach individuellen Bedingungen und Rahmensetzungen. Die Frage nach Schnittmengen wird also interessant – und die Frage nach Rollenverteilungen: „Wer gestaltet welche öffentlichen Räume? Wer nimmt das in die Hand?“ Das hat mit Ressourcen zu tun: „Geld scheint wichtig zu sein, um sich in öffentlichen Räumen Aufmerksamkeit zu verschaffen.“ Mit einer bewusst unbeantwortet gelassenen Frage leiten Lindner und Steinbrenner den Übergang zum gestalterischen Teil ein: Seit wann gibt es eigentlich die Unterscheidung privat/öffentlich?“ Dann verteilen sie Faltpläne der Gemeinde Jesteburg und leere Bögen Pergamentpapier zum Darüberlegen. Die Aufgabe ist zunächst einfach: „Markiert Wege, auf denen Ihr regelmäßig unterwegs seid.“




Es entstehen individuelle Wegekarten auf dem durchscheinenden Material, jede folgt anderen Wohn- und Arbeitsorten, Lebensweisen, Einkaufsgelegenheiten und Freizeitbeschäftigungen. All dies sind Karten von Jesteburg, nur eben mit einem jeweils radikalen Fokus auf das Eigene. Interessant werden sie als Schichten eines sezierten Jesteburg – und da sie auf Pergamentpapier gezeichnet sind, lassen sie sich alle übereinanderlegen, um Cluster, Parallelen und Verdichtungen zu entdecken. Besonders gut funktioniert das am Fenster, wo Lindner und Steinbrenner bereits einen Rahmen angeklebt haben.





Manche Deutungen fallen leicht: „Diese Straße hier scheint nach Hamburg zu führen.“ Oder: „Diese Kringel hier sind bestimmt Runden mit einem Hund.“ Und dann beginnen die Gedankenspiele: „Ich hätte gerne eine Verdichtung von allen Menschen in Jesteburg.“ Wäre die dann eine große schwarze Fläche, wäre alles abgedeckt? Oder gibt es Orte, an die niemand geht oder gehen darf? „Wenn ich in Jesteburg Kunst machen würde, dann da“, sagt Steinbrenner und zeigt auf ein schwarzes Cluster in der Mitte – offenbar den Spethmannplatz, an dem jede*r mal vorbeikommt. Lindner sieht das anders: „Ich würde sie nicht da machen, wo alle hingehen, sondern da, wo alle hingehen sollen.“


Welche Konsequenzen ergeben sich also aus der jeweiligen Nutzung für die mögliche Gestaltung von Orten? Welche Anziehungskraft haben kaum (noch) oder alternativ genutzte Orte? „Gibt es in Jesteburg Orte oder Gegenden, wo man nicht so gerne hingeht, wo es einsam, unheimlich oder schattig ist?“, fragt Steinbrenner. Ein schmuddeliger Weg am Bahnhof wird genannt, eine Sackgasse, ein altes Lagerhaus hinter dem Gewerbegebiet. Halten sich dort Dorgensüchtige auf? Wohnungslose? Viele Jesteburger*innen teilen sich eine bestimmte Perspektive: die einer reichen Gemeinde.




Der Schwerpunkt auf bestimmte Nutzungen oder Qualitäten prägt die Wahnehmung von Orten: Wo kann ich gut nachdenken? Wo ist es laut oder leise? Wo riecht es gut? Wo habe ich öffentliches WLAN? Wo wird es nass, wenn es regnet, weil sich Wasser sammelt? Wo wird es nie ganz dunkel? Entsprechend gestaltet sich die nächste Karten-Aufgabe: „Legt selbst eine solche Qualität fest und zeichnet eine neue individuelle Karte auf einen neuen Bogen transparentes Papier.“




Das Cluster beim Übereinanderlegen wird rätselhafter, bunter, ausgreifender – viele individuelle öffentliche Räume ergeben gemeinsam etwas Neues. Die Schnittmengen sind jetzt umso interessanter. Und nun dreht sich die Perspektive bei der Betrachtung und in den Diskussionen: Es gilt, zunächst die persönliche Frage- und Aufgabenstellung zu ergründen. Wohlfühlorte und besondere Orte sind darunter, an denen man Zeit verbringen und lustwandeln kann. Der tiefste Punkt Jesteburgs ist auf einer anderen Karte markiert, zusammen mit dem sich daraus ergebenden Überschwemmungsgebiet: „Jesteburg ist ein klatschnasser Ort.“ Eine Karte mit vielen einzelnen Kreuzchen gibt Rätsel auf: Wohnen da Freunde? Schon mal selbst da gewohnt? Schon mal da verliebt gewesen? Schon mal Kunst da gemacht? Die Auflösung: „Da ist es grün und da gibt es Wasser.“

Eine weitere Karte zeigt „Orte, an denen ich in Jesteburg gut den Kopf freibekommen kann“. Dann wieder ein Muster mit Assoziationspotenzial: Sind das alle lauten Ecken? Hans-guck-in-die-Luft-Orte? Konfliktorte? Die Sache mit den Konflikten erweist sich als heiße Spur: „Das sind Orte, über die Menschen aus Jesteburg in ihrem digitalen Forum diskutieren, Knackpunkte aus den aktuellen Diskursen.“ Andere Karten zeigen zum Beispiel Orte mit ganz persönlichen Bezügen – wo war es in der Jugend spannend, wo kann man heute noch ungestört Zeit verbringen? Und auf einer ist nur ein einziger, kleiner Ort markiert, der sich als Lisa-Kate erweist: „Das sind Orte, denen etwas mehr Öffentlichkeit gut tun würde.“ Fragestellungen für noch mehr Karten und Cluster gäbe es genug: „Wo müsste mehr Kunst sein?“ Oder: „Welche Orte hätten mehr Aufmerksamkeit verdient?“ Aber das Prinzip der Herangehensweise ist sehr deutlich geworden.




Die nächste Annäherung führt nach draußen, auf einen Feldweg in der Nähe des Schützenhauses. „Diese Übung klingt vielleicht erstmal beängstigend – wir werden sehen, wie weit ihr geht“, sagt Steinbrenner. Und Lindner erklärt, es gehe darum, sich in Zweierteams abwechselnd ein Stück zu führen und zu begleiten – eine*r mit verbundenen Augen, eine*r sehend, aber so wenig wie möglich eingreifend. Es geht um eine alternative Wahrnehmung der Umgebung, um Erfahrungen und veränderte Perspektiven.




Die Übung dauert für jede*n etwa fünf Minuten – dabei lassen sich erste Erfahrungen machen, die im Anschluss geteilt werden können. „Woran ich mich orientiert habe, hat sich mit jedem Schritt verändert“, berichtet jemand. Die Methoden passten sich permanent mit den Erfahrungen an und veränderten sich, die Orientierung funktionierte auch über eine Übertragung aus dem zuvor visuell wahrgenommenen. Vertrauen kehrte sich um – manchen Sehenden fiel es fast schwerer, den Nicht-Sehenden zu vertrauen als umgekehrt. Lindner betont aber vor allem dies: „Nach drei bis vier Stunden ergibt sich noch ein ganz anderes Empfinden.“ Und Steinbrenner erklärt, Sehen sei darauf angewiesen, alles permanent wahrzunehmen: „Ohne Sehen ergibt sich eine weitaus nachhaltigere innere Karte.“ Aus einer anderen Sinneswahrnehmung und Raumerfahrung folgten andere, individuellere Räume. „Die gilt es, in Schnittmengen und Bezüge zu überführen – und dabei aufmerksam zu sein für die Wahrnehmung anderer“, so Steinbrenner.






„Mit solchen Methoden nähern wir uns auch in eigenen Projekten öffentlichen Räumen an“, sagt Steinbrenner. Es gelte, Räume sehr sorgfältig wahrzunehmen: „Wir wollen genau wissen, wohin wir etwas tragen – und was wir dahin tragen könnten.“ Und oft gehe es eben eher in der Kunst eher um die richtigen Fragen als um Antworten auf Fragen. Abschließend erzählen Lindner und Steinbrenner von einigen ihrer Projekte, die in den vergangenen Jahren im Zusammenhang mit öffentlichen Räumen stattgefunden haben. Oft werden die Betrachtenden dabei zu Akteur*innen, ohne es zu merken, finden sich intuitiv in ästhetischen Entscheidungssituationen wieder. Lotte Lindner & Till Steinbrenner lernten sich im Rahmen eines Studiums der Freien Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig kennen, wo sie schließlich mit einem Meisterschülerstudium bei der einflussreichen Performancekünstlerin Marina Abramović abschlossen.

Im Jahr 2011 wurden Lindner & Steinbrenner in einem Wettbewerb der Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz ausgewählt, Kunst für den Garten des Hauses der Braunschweigischen Stiftungen zu entwickeln. „Wir haben entschieden, dass dieser Garte mehr Leben braucht, nicht mehr Kulturbesitz“, sagt Steinbrenner. Also ließen sie mehr als 50 bezahlte Freiwillige in der Arbeit Der Weg I sechs Stunden lang einen Trampelpfad entlang eines abgesteckten Parcous erstellen – der auch nach entfernen des Leitsystems noch einige Wochen lang zu sehen war.

Die Arbeit Alternative Social Systems / Excercise IV: You are right ist allen, die die Jesteburger Akademie verfolgen, als Titelmotiv der ersten Einladungskarte vertraut. Die Stoffbahn mit der Aufschrift Du hast recht sei eine „zuhörende Fahne“ und anstrengend in der Luft zu halten. „Die ist so groß, man schafft alleine etwa zwei Minuten, dann braucht man eine Pause“, so Steinbrenner.

Transformator II / Use the nigth for something bright entwickelten Lindner & Steinbrenner 2016 für ein Lichtkunstfestival in Kassel: Der Leuchtschriftzug Die Nacht zu etwas Hellem nutzen wird über Bewegungsmelder aktiviert, aber jeweils nur teilweise. Es ist ein koordiniertes Vorgehen mehrerer Menschen notwendig, um alles gleichzeitig lesen zu können. „Das ist eine andere Art der Rezeption als nur zu schauen“, sagt Steinbrenner.
Die Licht-/Audio-Installation Naherholung befindet sich in einem Schaufenster an einem Ende der verfüllten ehemaligen Fußgängerunterführung zum Neuen Rathaus Hannover. An einem stillen Unort unter dem stark befahrenen Friedrichswall laden Lindner & Steinbrenner zu einer Art urbaner Meditation oder Hypnose ein, die immer ein wenig zu kippen droht – und dabei ein wenig nach einer Entspannungs-CD eines dubiosen Gurus klingt.
Für einen Experimentierraum im so genannten Kulturdreieck im Rahmen des Innenstadtdialogs der Landeshauptstadt Hannover entwickelten Lindner & Steinbrenner die Idee, vielfältige mögliche Wege rund um und quer durch das Kulturdreieck mithilfe von Spuren aus einem Kreidewagen sichtbar zu machen, wie er zum Beispiel für Rasenmarkierungen im Sport verwendet wird. Steinbrenner sieht in dieser Methode auch Potenzial für Jesteburg: „Jede*r kriegt einen Tag lang den Kreidewagen und macht damit seine alltäglichen Wege lesbar – wo treffen die sich dann?“

Ganz am Ende des Workshops fragt dann einer der Teilnehmer doch nochmal nach Steinbrenners anfänglicher Bemerkung, die beiden Gäste haben Jesteburg als „komplexes System“ erlebt: „Was ist denn an Jesteburg so komplex?“ Lindner antwortet, ein teil der Antwort sei bestimmt, dass drei Viertel der Jesteburger*innen eigentlich von woanders kommen und zugezogen sind. Das führe zu einer großen Spannung, nicht zuletzt wegen viel Kapital und hoher Grundstückspreise. Steinbrenner ergänzt: „Sowohl unsere Erfahrungen mit Dorf als auch die mit Stadt waren alle unzutreffend.“

[Alle Fotos: Sophie Casna.]
Nachgespräch
Einige Tage nach Lotte Lindners & Till Steinbrenners Workshop trafen sie sich mit Akademie-Projektleiter Thomas Kaestle zu einem digitalen Nachgespräch. Für die Teilnehmer*innen des Workshops ergibt sich hier möglicherweise die eine oder andere Vertiefung, Verortung oder Reflexion. Vor allem ist die Aufnahme aber ein Angebot an all jene, die nicht zum Workshop mit Lotte Lindner & Till Steinbrenner kommen konnten oder wollten: Sie haben hier Gelegenheit, die Akademie-Gäste mit ihren Herangehensweisen, Strategien, Ideen, Hintergründen und Erlebnissen kennenzulernen. Wie gehen sie mit öffentlichen Orten um, was interessiert sie daran, welche Kunst entspricht ihren Schwerpunkten?
Unter diesem Absatz finden Sie das Nachgespräch als Video- und als Audiomitschnitt. Sie entscheiden selbst, ob Sie nur hören wollen oder dabei die Gesprächspartner*innen auch sehen wollen.