LU’UMs Recherche, Workshop und Rückblick

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Der Jesteburger Workshop des Hamburger Kollektivs LU’UM bricht schon auf den ersten Blick mit etablierten räumlichen Strukturen, zunächst ganz simpel: Das vertraute Rechteck aus Tischen im Schützenhaus ist einer langen Tafel gewichen, die den Raum diagonal durchzieht. Auf einer Seite warten Kaffee und Kuchen, auf der anderen eine Kochplatte und Zutaten für Quesadillas. Doch zunächst bildet sich ein Kreis für die Vorstellungsrunde. LU’UM ist ein offenes, transdisziplinäres Kollektiv, das sich im Jahr 2019 in Hamburg gegründet hat. Seine Mitglieder bringen Studienabschlüsse und Erfahrungen aus Architektur, Planung, urbaner Praxis, bildender Kunst, Design, Kunstvermittlung und -management und Kulturwissenschaften mit.

Nach Jesteburg waren schon einige Tage zuvor drei Mitglieder gekommen: Lukas Bartholl bringt einen Bachelorabschluss in Kunst- und Medienvermittlung und einen Masterabschluss in Urban Design mit – mit der zentralen Haltung, „Stadt nicht nur als gebaute Umwelt wahrzunehmen“. Ali Hajinaghiyoun hat einen Masterabschluss in Architektur und Stadtplanung und hat, wie er sagt, „zehn Jahre formelle Planung in verschiedenen Maßstäben betrieben – von 1:1 bis 1:20.000“. Dabei habe ihn immer auch die Frage begleitet, wie Raumpraxis sozial wirksam sein könne. Als Urbaner Praktiker arbeitet er heute auch freiberuflich. Und Alberto Conejo Camargo hat ein Architekturstudium mit Diplom abgeschlossen und außerdem Urban Design und Kommunikationsdesign studiert.

Beim Workshop im Schützenhaus erhalten sie Gesellschaft von weiteren Mitgliedern des Kollektivs: Déborah Fortes hat Architektur studiert und außerdem einen Bachelorabschluss in Produktdesign. Maud van den Beuken hat einen Bachelorabschluss in Freier Kunst, Margeaux Flick einen in Stadtplanung. Und Lea Rahel Mork einen Masterabschluss in Kunstvermittlung und Kulturmanagement.

Die Mitglieder von LU’UM interessieren sich aber auch für die Perspektiven der Workshopteilnehmer*innen. „Wir beginnen solche Zusammenkünfte gerne mit so genannten Intnetion Round“, sagt Bartholl und erklärt: „Es geht uns am Anfang darum, wer mit welchen Interessen gekommen ist.“ Außerdem fügten sie gerne noch spontan eine zusätzliche Überraschungsfrage hinzu. Die liege heute, wo es um den gemeinsamen Bau einer Jesteburg gehen solle, auf der Hand: „Welche ersten Assoziationen zu Burgen stecken in den Köpfen, was ist schon da?“ Er selbst beginnt die Runde mit einem leicht unwohlen Gefühl: „Der Blick auf Burgen kann schnell romantisierend werden – und dann auch rückwärtsgewandt, vielleicht sogar reaktionär.“ Bartholl verweist auf die Lektüre eines Artikels über die Rekonstruktion historischer Herrschaftsgebäude als Teil der Identitätspolitik rechtnationaler Regierungen.

Das weitere gemeinsame Brainstorming zu Burgen ergibt:
Vorstellungen von Gebäuden mit dicken Mauern als sichere Orte;
Gedanken über Rapunzel und die Frauenrolle des Mittelalters;
Bilder von Krieg und blutgetränkter Erde im Zusammenhang einer Schutzfunktion;
konkrete Erinnerungen an die Maxburg als Hambacher Schloss und damit als die Wiege deutscher Demokratie;
Bilder von Kreisen und kreisförmigen Gebäuden, die Raum einnehmen und Territorium markieren;
Aspekte von Besatzung, Herkunft, Identifikation und Tourismus;
eine lokale Assoziation zur Kunststätte Bossard;
die Idee einer Burg als Ort der Zusammenkunft, als großem Raum der Gemeinschaft, als Möglichkeit von Internationalität, als Raum mit Wärme in seiner Mitte;
Gedanken über Prinz Eisenherz als Comic-Held der Kindheit und Identifikationsangebot, über Helsingör und Schloss Kronborg als Hamlet-Burg, über die Playmobil-Burg der Kinder und einen Pastor, der in Jesteburg mit dem Spaten nach der Jesteburg gegraben hat;
Erinnerungen an Burgen in Japan;
die Einschätzung, Burgen seien früher immer etwas Brutales gewesen, heute hingegen auch kein attraktiver Besitz, „weil man die kaum warm bekommt und dann auch noch Touristen reinlassen muss“;
die Kindheitsidee, die Jesteburg sei eine Burg aus Stein gewesen, und die spätere Erkenntnis, es habe sich um eine Pfahlburg aus Holz gehandelt, weshalb ihr Ort heute unbekannt sei;
den Gedanken, dass Menschen, die Zusammenkommen, immer auch andere Menschen ausschließen, dass ein Kreis immer auch eine Linie ist, dass deshalb die Frage an Bedeutung gewinnt, wo sich Durchlässe befinden, Wege hinein und hinaus;
die Feststellung, dass Hamburg und Jesteburg beide eine Burg im Wappen führen, die Bedeutungszuschreibung, Hamburg sei Tor zur Welt, und die Frage, ob Jesteburg möglicherweise eher die Rückseite einer solchen Toranlage sei;
die Unterscheidung zwischen einer Burg und einem Königreich als Systemen, die unterschiedliche Rollen definieren;
den Fokus auf den Keller der Burg, Verliese, Räume in denen mystische und geheime Dinge geschehen und die Assoziation eines Ritterschmauses ohne Besteck.

Bevor die Mitglieder von LU’UM von ihrer Zeit in Jesteburg berichten, erzählen sie von ihrem Selbstverständnis und dessen Ausdruck in anderen, bisherigen Projekten. Im Zentrum steht immer der gleiche Anspruch: „Wir gestalten Begegnungen.“ Es gehe dabei vor allem um temporäre, mobile Architekturen, die solche Begegnungen und die entsprechenden Kommunikationen fördern: „Wie kommen Menschen zusammen, wie entwickeln sie Bezüge und Beziehungen?“ Man reagiere damit auch auf eine gesellschaftliche „Krise der Präsenz“. Das Kollektiv arbeitet offen, ortsbezogen und prozessorientiert. Seine interventionistischen Projekte entstehen oft auch in kreativer Resonanz mit einem internationalen Netzwerk aus Künstler*innen, anderen Kollektiven, Kulturinstitutionen oder lokalen Behörden. LU’UM hatte im Wintersemester 2021/22 einen Lehrauftrag an der Fakultät für Architektur der HafenCity Universität Hamburg und ist Teil der Initiative Zentrum für Zukunft, die sich seit 2021 „für eine bedarfsgerechte und zukunftsfähige Hamburger Innenstadt“ einsetzt. Der Name LU‘UM stammt aus der Sprache der Maya und kann Erde, Land oder Boden bedeuten.

Die LU’UM-Delegation erzählt von einem Workshop im Rahmen der Konferenz You promised me a city in Hannover, bei dem gemeinsam mit geretteten Lebensmitteln gekocht wurde, und zeigt ein dafür gedrucktes T-Shirt mit der Frage: „Verderben viele Köch*innen die Stadt?“ Es ging dabei um die Analogie des Rezeptes und den improvisierenden Umgang mit Vorhandenem: „Wie kann man Stadt gemeinsam gestalten, einen Umgang miteinander entwickeln – trotz sehr klarer Strukturen in Politik und Verwaltung? Wie kann man ins Gespräch kommen trotz heterogener Rollen?“ Solche Rollen wurden in Hannover gar nicht erst thematisiert, die Teilnehmer*innen stellten sich vielmehr als Zutat vor, entsprechend der These: „Eine Stadt muss mit den Zutaten arbeiten, die nun einmal da sind.“ Ein weiteres vorgestelltes Projekt ist der Dachhain Hamburg: 22 mobile Kästen mit Bäumen waren Teil eines Umzugs durch Hamburg und landeten schließlich temporär auf dem Dach des ehemaligen, leerstehenden, KarstadtSport-Gebäudes, wo LU’UM Pionier*innen einer Zwischennutzung waren. Weiterhin geht es in der Vorstellung um einen Workshop mit Kindern, inspiriert durch die Kartografie der Ureinwohner*innen Australiens, die Landschaft zur Orientierung singen. Das Projekt Hotel Solo in Breda in den Niederlanden lädt einmal im Jahr ein Kollektiv aus anderem Land zu einer zweiwöchigen Residenz ein. LU’UM gestaltete im Jahr 2021 dort ein durchgehendes Programm, in dessen Rahmen geneinsam gelebt und gegessen wurde und bei dem Räume mit vorhandenen Materialien verändert wurden.

Einer der ersten Eindrücke der LU’UM-Delegation in Jesteburg sei gewesen: „Warum gibt es hier keine Kneipe, wo gehen die Menschen hin, wenn all die Cafés schließen, wo trifft man sich zum Biertrinken – und wo sind eigentlich die Jugendlichen?“ Beim Nachdenken über Orte der Begegnung und Identifikation sei man schnell auf den Umstand gestoßen, dass Jesteburg zwar eine Burg in Namen und Wappen trage, dass eine solche Burg aber trotz viel Archäologie nie lokalisiert werden konnte. Bis heute ist nichts über die historische Jesteburg bekannt. Wie könnte die Jesteburg also ausgesehen haben? Und viel wichtiger: Wie sieht sie heute aus, in den Köpfen der Menschen? Wie könnte, wie müsste sie aussehen? Also entstand der Plan: „Wir bauen die Jesteburg!“ Und zwar am Workshop-Tag im Schützenhaus, aus Material, das in den Tagen zuvor bei Streifzügen durch die Gemeinde gesammelt wurde. Die LU’UM-Mitglieder wanderten mit einer mobilen Plattform von Tür zu Tür, sprachen Menschen an und baten um Baumaterial für die Jesteburg: „Was können, was würden Sie beisteuern?“ Konzepte, Ideen und Texte wurden vor Ort in Jesteburg entwickelt: „Es ging uns darum, wie wir mit den Menschen in Jesteburg zusammenkommen können, wie wir gemeinsam mit ihnen Handeln können, wie wir mit ihnen über Identitäten ins Gespräch kommen können.“

Eine Flagge entstand, eine Einladungskarte zum „Burgfest“ beim Workshop im Schützenhaus, die mobile Plattform, auf der später auch die Jesteburg entstehen sollte – zunächst als Möglichkeitsraum, als Leerstelle „mit einem goldenen Rahmen für Kommunikation und Begegnungen“, als „Fragestellung und Prozess, der nie enden kann und soll“. Außerdem wurde ein Gründungsstein auf der Plattform befestigt, den ein Mitarbeiter des Jesteburger Bauhofs vorab beigetragen hatte. Beim Weg durch die Gemeinde, um Material zu sammeln, trugen die LU’UM-Mitglieder uniforme Warnwesten und spielten in jeder Straße, in die sie zogen, eine Fanfare ab, bevor sie individuelle Gespräche mit Menschen suchten, die ganz unterschiedliche Gegenstände aus Kellern und Garagen holten. „Das hat auch zu Überforderung und Irritation geführt“, sagt Bartholl. Überwiegend seien die Begegnungen aber positiv gewesen: „Wir haben versucht, Menschen Ideen in den Kopf zu setzen.“ Man habe eben keinen Müll einsammeln wollen, sondern eher Dinge, die nicht mehr gebraucht werden. Bisweilen sei es ein wenig kafkaesk geworden: „Personal in Geschäften verwies auf Konzernzentralen und sagte, man dürfe so etwas nicht selbst entscheiden, vor der Schule wurden wir gefragt, ob denn die Verwaltung Bescheid wisse…“ Die Gruppe habe die Straßen in Jesteburg als sehr unterschiedlich erlebt: „Da leben auch jeweils sehr verschiedene Menschen.“ Unterwegs sei auch klar geworden, dass man gar nicht die erste assoziative Rekonstruktion der Jesteburg zu bauen vorhabe: „Wir haben eine große aus Holz auf einem Spielplatz gefunden.“

Beim Workshop im Schützenhaus ergibt sich nach der Projektvorstellung schnell eine sehr offene Atmosphäre, in der Begegnungen, Austausch und Zusammenarbeit niedrigschwellig nahe lagen. Das Ziel ist schnell zusammengefasst: „Wir wollen bauen, kochen, essen und reden.“ Ein Teil der LU’UM-Mitglieder kümmert sich um die Herstellung von Quesadillas, andere fangen an, sich gemeinsam mit den Teilnehmer*innen um das gesammelte Baumaterial zu kümmern und sich erste Gedanken zu machen, wie es auf der Plattform rund um den Gründungsstein zu einer Jesteburg werden könnte: Das sind Konstruktionsholz, eine runde Holzscheibe, ein kleiner Holztisch mit Schale, ein altes Geländer, das Fragment eines Eisenrohrs, das jemand im Garten in der Erde gefunden hatte, ein gedrechselter Stuhl, ein Backstein, Blumen, ukrainische Süßigkeiten…

In der Gruppe entstehen schnell Fragen, Ideen und Visionen: „Brauchen wir ein Dach, Begrenzungen, Eingänge und Durchlässe?“ Gibt es eigentlich eine grundlegende Idee, ein Konzept, einen Entwurf? Das ist einfach: „Wir folgen dem Prozess!“ Auf den ersten Blick einfach und offensichtlich einzufügende Elemente werden so zu etwas ganz anderem, werden dekonstruiert und verwandelt, erhalten neues Leben, werden dynamisch. Der Stuhl wird, in Fragmente zerlegt, zur Begrenzung, zur Balustrade, schließlich zum Erker und zu einer Zugbrücke/Rampe. Die massive Holzscheibe wird zum klappbaren, ornamentalen Fenster. Einzelne Teilnehmer*innen widmen sich mit voller Konzentration bestimmten Projekten und Lösungen, Entwürfen und Ideen, machen sich diese zu eigen, stimmen sich mit anderen Konstrukter*innen und deren Bauvorhaben ab.

Alle bringen sich mit ihren Perspektiven und Fähigkeiten ein, greifen ineinander und lassen etwas Gemeinsames entstehen. Dabei verschieben sich die Rollen dynamisch – zwischen Macher*innen, Mitmacher*innen, Beobachter*innen, Kommentator*innen, Ideengeber*innen und Performer*innen. Schließlich ist eine Jesteburg entstanden – die Jesteburg für den Tag, für den Moment. Ihr nachhaltiger Verbleib ist unklar, aber auch irrelevant, da es ja nie um Ewigkeitsentwürfe ging, sondern um Prozesse. Dennoch findet sie zunächst ihren Platz in einem Garten in der Nähe. Wichtiger hingegen ist, was von den gemachten Erfahrungen und den geführten Gesprächen bleibt: im Bewusstsein aller Beteiligten.

[Fotos: Sophie Casna und LU’UM,
Videos: LU’UM.]

Nachgespräch

Einige Tage nach dem Workshop des Kollektivs LU’UM trafen sich einige Mitglieder mit Akademie-Projektleiter Thomas Kaestle zu einem digitalen Nachgespräch. Für die Teilnehmer*innen des Workshops ergibt sich hier möglicherweise die eine oder andere Vertiefung, Verortung oder Reflexion. Vor allem ist die Aufnahme aber ein Angebot an all jene, die nicht zum Workshop mit LU’UM kommen konnten oder wollten: Sie haben hier Gelegenheit, die Akademie-Gäste mit ihren Herangehensweisen, Strategien, Ideen, Hintergründen und Erlebnissen kennenzulernen. Wie gehen sie mit öffentlichen Orten um, was interessiert sie daran, welche Kunst entspricht ihren Schwerpunkten?

Unter diesem Absatz finden Sie das Nachgespräch als Video- und als Audiomitschnitt. Sie entscheiden selbst, ob Sie nur hören wollen oder dabei die Gesprächspartner*innen auch sehen wollen.

[Video: Nachgespräch mit den Akademie-Gästen vom Hamburger Kollektiv LU’UM.]
[Audio: Nachgespräch mit den Akademie-Gästen vom Hamburger Kollektiv LU’UM.]

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