Jan Fischers Recherche, Workshop und Rückblick

[Sie wollen direkt zum aufgezeichneten Nachgespräch zwischen Gastkünstler Jan Fischer und Akademie-Projektleiter Thomas Kaestle gelangen? Dann klicken Sie bitte hier.]

Jan Fischer, der als erster Gast der Akademie im Oktober eine Woche in Jesteburg recherchierte, Eindrücke und Ideen sammelte und sich inspirieren ließ, hielt sich zum Zeitpunkt der Programm-Eröffnung im September noch im südfranzösischen Perpignan auf, um, wie er es nannte, „herauszufinden, wie man eine Stadt aufschreibt“. Der Autor und Kulturjournalist berichtete in einem Live-Telefonat von seiner geduldigen Neugier, mit der er Menschen und Situationen beobachtet.

[Der Autor und Journalist Jan Fischer vor dem Schützenhaus in Jesteburg.]

Ein sanfter Einstieg in die Akademie also mit einem ersten Gastkünstler, der vor allem mit Sprache arbeitet, der genau hinschaut und auch andere neugierig machen möchte auf solche präzisen Blicke auf Dinge, die sonst oft ganz alltäglich vorbeirauschen – oder zurückbleiben, wenn wir auf unseren eiligen Wegen von all den As zu all den Bs an ihnen vorbeirauschen. Denn darum geht es bei den Workshops der Akademie: Neugierig zu machen auf künstlerische Haltungen, Herangehensweisen, Methoden und Strategien. Die Perspektiven zu weiten auf eine unbegrenzte Vielfalt von Formaten einer Kunst in öffentlichen Räumen – jenseits des Etablierten, jenseits all der Objekte auf Sockeln. Oder eben: Künstler*innen über die Schulter zu schauen bei Recherche und Brainstorming, bei Ideen und Konzepten, bei ersten Skizzen und Experimenten.

Die Annäherung an Orte funktioniere für ihn meist zunächst langsam, behutsam, ergebnisoffen und ziellos, lässt Fischer bei seinem Workshop im Schützenhaus wissen: „Ich laufe einfach los.“ In Jesteburg nutzte er für die Zufallsnavigation eine Handvoll Würfel – „diese wunderbaren analogen Zufallsgeneratoren“. 35 Kilometer habe er in sechs Tagen in Jesteburg zurückgelegt, durch Industriegebiete oder Waldstücke, so Fischer. Fünf Orte habe er dabei genauer betrachtet. Doch darum sollte es erst im späteren Verlauf der Veranstaltung gehen. Zunächst erzählt Fischer vom Flanieren als Kulturtechnik. Oder eben als „Gentlemansport“ des 19. Jahrhunderts, als Format des Müßiggangs, als Luxus, als Performance der eigenen Möglichkeiten und als Grundlage des Beobachtens.

„Wen trifft der Flaneur eigentlich beim Flanieren?“, fragt Fischer. Und antwortet: „Ich würde sagen, er trifft hauptsächlich sich selbst.“ Er schwärmt von Edgar Allan Poes Erzählung Der Mann der Menge aus dem Jahr 1840 und dem Motiv des „stillen und eindringlichen Interesses an allem“. Diese Typ des Flaneurs verweise immer auf Größeres, so Fischer, er beobachte immer zuerst und erkläre dann – wenn er denn überhaupt erklären könne. Der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin habe das Flanieren als Erforschung von Gegenwart und damit auch von Stadt begriffen, mit einer großen Liebe für das Banale – Fischer bezeichnet ihn als „König der Verweismaschine“.

„Wenn alles ein Produkt von Kultur ist, kann mir auch alles etwas über Kultur erzählen“, fasst Fischer zusammen und schickt ein Bild hinterher: „In den Strom der Gegenwart muss ich nur meine Hand halten, dann kann ich mir etwas herausziehen, das mir etwas erzählen kann.“ Unter anderem anhand von Street Art betrachtet Fischer, was geschieht, wenn der Flaneur zum Akteur wird. Es sei unmöglich, neutral zu beobachten, ohne selbst Einfluss zu nehmen: „Ich kann mich in einer Stadt nicht raushalten.“ Graffitis seien eine von vielen möglichen Strategien der Aneignung in einer Stadt, so Fischer: „Das ist nicht einfach nur ein Stück Beton, hier wohnen Menschen.“

Wer sich wie und wie weit durch eine Stadt bewege, wer dabei geduldet werde und wer nicht, für wen die Stadt gebaut sei, wer sich auf welche Weise bewege, mit welcher Selbstverständlichkeit, Motivation und Ruhe: All das seien Fragen, die das Erlebnis des Flanierens und Wahrnehmens prägten, so Fischer. Es könne zum politischen Akt werden, zum Eroberungsfeldzug zum Ausdruck eines Trotzes. Umso wichtiger sei es, Berichte vom Erleben anderer Menschen lesen zu können, die Stadt eben anders erfahren. Dazu zähle auch der Unterschied zwischen jenen, die einen Ort gut kennen, und jenen, die dort Fremde seien.

Und dann schickt Fischer seine Workshopteilnehmer*innen nach draußen, mit Spielregeln und Würfeln ausgestattet: Sie sollen sich mit Hilfe der zufälligen Zahlen auf ihrem Weg leiten lassen, durch Jesteburg und an Orte, die sie vielleicht noch nie bewusst wahrgenommen haben. Dort sollen sie dann beobachten und notieren, ganz individuell: Stichworte, Sätze, Geschichten, Gedanken.

Als alle wieder da sind, zeigt sich: Die Erlebnisse und Erfahrungen sind so unterschiedlich wie die Menschen, die von ihnen berichten – so unterschiedlich wie die Sprache, die sie jeweils dafür finden. Schlagworte und Lyrik bescheiben gefundene Jesteburger Orte, Reflexionen über das eigene Schreiben und das Gefühl, sich zu verorten. Eine kleine Gruppe schuf sich ihren Ort erst, indem sie Laub arrangierte, einer nutzte die Sackgassensituation, in die er sich gewürfelt hatte, als gedankliche Basis. Und einer wurde zum „Platziergänger“ mit sprachlichen Eigen- und Neuschöpfungen zur Beschreibung eines belebten Ortes, an dem er Menschen studierte. Er nimmt sich vor: „Das mache ich jetzt öfter.“

Fischer berichtet erst danach von seinen eigenen Streifzügen durch Jesteburg, bei denen er sich vorgenommen hatte, an Orten verloren zu gehen und dann zu schauen, was passiert: „Ich habe für mich aus Nicht-Orten Orte gemacht.“ Kleine, flüchtige Momente habe er gesucht und festgehalten, an den fünf Orten, die er sich im Verlauf seines Aufenthaltes erwürfelte. „Lauschposten“ hat er sein Experiment genannt – denn er hat vor Ort spontan seine Gedanken und Beobachtungen als Audiodateien aufgezeichnet. „Das Ziel war nicht, Literatur zu erzeugen und auch keine Aufnahme in Studioqualität“, sagt Fischer. Er habe sich für ein Format entschieden, das unterwegs gut funktioniere, um ein kleines Stück Gegenwart festzuhalten, einen banalen, zufälligen Ort zu etwas Bensonderem zu machen.

„Eine Stimme kann außerdem mehr transportieren als es ein aufgeschriebener Text könnte“, so Fischer, der sich vorstellt, dass andere Menschen sich seine Skizzen vor Ort anhören, während sie sich selbst umschauen. Dafür hat er an den Orten jeweils Aufkleber mit QR-Codes hinterlassen. Wer diese mit seinem Smartphone scannt, gelangt über einen Link zu einem Archiv beim Online-Musikdienst Soundcloud und kann dort Fischers eingesprochene Beobachtungen anhören. Er betont jedoch: „Was ich gemacht habe, ist gar nicht der Witz bei der Sache.“ Er erklärt dazu neue Spielregeln seines Experiments: „Die Jesteburger Büger*innen können eigene Beobachtungen zu den von mir beschriebenen Orten aufnehmen, zum Beispiel ebenfalls mit ihren Smartphones, die heute alle auch eine Aufnahmefunktion haben. Die Audiodateien können sie dann an die Email-Adresse lauschposten@jesteburg.art senden. Ich füge sie dann auf Soundcloud den bereits existierenden Audiobotschaften hinzu. Wer keine Audiodatei aufnehmen kann oder möchte und auch keine Hilfe dabei findet, kann mir aber auch einen geschrieben Text schicken, den ich dann einsprechen werde. So entsteht über die Zeit die Geschichte eines Ortes, erzählt von seinen Besucher*innen anhand von deren Eindrücken.“

Das mache dann bei Gelingen des Experiments irgendwann dessen eigentlichen Reiz aus, so Fischer: Sich anhören zu können, was sich eine ganze Reihe anderer Menschen irgendwann zu einem Ort gedacht haben. „Man könnte dann hören, wie sich die Stadt verändert, über Jahreszeiten und Jahre hinweg“, schwärmt Fischer. So entstehe ein Audioarchiv, eine Langzeitbeobachtung, ein detailliertes, gemeinsam geschriebenes Tagebuch, gefiltert durch persönliche Blicke, das sich prinzipiell unendlich erweitern lasse. Und jede*r könne ganz einfach zu einem kleinen Teil davon werden, mit eigenen Beobachtungen, Eindrücken, Perspektiven – mit der eigenen Stimme.

Die Teilnehmer*innen des Workshops diskutieren angeregt die Möglichkeiten eines solchen Projektes – auch über das von Fischer begonnene Experiment hinaus. Wie könnte so etwas aussehen, wenn man es verstetigt, wenn sich für viele Jahre Orte etablieren, an denen auf eine solche Weise Beobachtungen und Eindrücke vieler Menschen zu einem gemeinsamen Höruniversum beitragen. Wie würde das die Wahrnehmung verändern – auch die der Art und Weise, wie andere denken und schauen? Auch Bedenken werden laut: Wie umgehen mit Missbrauch, mit „Audio-Vandalismus“, was tun, wenn jemand abschweift, zu lange spricht, beleidigend wird? Braucht es eine Redaktion für ein solches Projekt? Fischer bleibt pragmatisch: „Erstmal würde ich sowas einfach machen und dann könnten wir schauen, wo es kaputt geht und wie wir darauf reagieren können.“

Zunächst bleibt Fischers Idee jedoch ein zeitlich begrenztes Experiment. Er hat fünf Orte eingerichtet und mit Aufklebern markiert. Darauf befinden sich QR-Codes, die zu seinen Audioaufnahmen führen. Wer seine eigene hinzufügen möchte, schickt sie (oder notfalls einen Text, den Fischer dann selbst einspricht) an die Email-Adresse lauschposten@jesteburg.art. Fischer fügt sie dem Archiv hinzu – und je mehr Menschen mitmachen, desto größer und vielfältiger wird es.

Dies sind die fünf Orte, an denen Fischer in Jesteburg Aufkleber mit QR-Codes hinterlassen hat:

[Ort 1 (Am Rand des Industriegebiets) finden Sie auf Google Maps hier.]
[Ort 2 (Bushäuschen) finden Sie auf Google Maps hier.]
[Ort 3 (Bank im Wald) finden Sie auf Google Maps hier.]
[Ort 4 (Stromkasten beim Spielplatz) finden Sie auf Google Maps hier.]
[Ort 5 (Raucherbank) finden Sie auf Google Maps hier.]

Nachgespräch

Drei Tage nach Jan Fischers Workshop traf er sich mit Akademie-Projektleiter Thomas Kaestle zu einem digitalen Nachgespräch. Für die Teilnehmer*innen des Workshops ergibt sich hier möglicherweise die eine oder andere Vertiefung oder Verortung. Vor allem ist die Aufnahme aber ein Angebot an all jene, die nicht zum Workshop mit Jan Fischer kommen konnten oder wollten: Sie haben hier Gelegenheit, den Gastkünstler mit seinen Herangehensweisen, Strategien, Ideen, Hintergründen und Erlebnissen kennenzulernen. Wie geht er mit öffentlichen Orten um, was interessiert ihn daran, wekche Kunst entspricht seinen Schwerpunkten?

Unter diesem Absatz finden Sie das Nachgespräch als Video- und als Audiomitschnitt. Sie entscheiden selbst, ob Sie nur hören wollen oder dabei die Gesprächspartner auch sehen wollen.

[Video: Nachgespräch mit Gastkünstler Jan Fischer.]
[Audio: Nachgespräch mit Gastkünstler Jan Fischer.]

[Alle Fotos vom Workshop: Sopie Casna.
Alle Fotos von den markierten Orten: Jan Fischer.]

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